Politologe über Brexit und US-Wahl: „Es kommt alles wieder zurück“

Die Arbeiterklasse ist verunsichert, sagt der britische Politologe Colin Crouch. Warum Rechte plötzlich den Wertebegriff entdecken.

Ein Muffin steht auf einer englischen Flagge

Außenminister Boris Johnson sagt in Abwandlung einer bekannten britischen Redensart: Wir werden unseren Kuchen behalten – und ihn essen Foto: imago/Westend61

taz: Herr Crouch, Sie haben das Wort von der „Postdemokratie“ geprägt, der Entleerung der Politik durch ökonomische Zwänge. In allen westlichen Gesellschaften erleben wir nun den Aufstieg eines neuen Rechtspopulismus. Ist das ein Aufstand gegen diese Postdemokratie?

Colin Crouch: Ja, auch wenn die fremdenfeindliche Rechte lieber von „abgehobenen Eliten“ spricht.

Kann das zu einer Wiederbelebung der Demokratie führen?

Diese Bewegungen gründen auf Gefühlen wie Wut, Hass und Intoleranz. Das ist destruktiv und kann die Demokratie nicht stärken. Wenn es aber andere Bewegungen auf den Plan ruft, die dieser fremdenfeindlichen Rechten entgegentreten, dann kann das wiederum durchaus zu einer Erneuerung der Demokratie führen.

Die Debatte konzentriert sich derzeit auf die abgehängte „weiße Arbeiterklasse“ – die Menschen in den alten Industriegebieten Nordenglands, die für den Brexit gestimmt haben, oder im Rust Belt der USA, die Donald Trump gewählt haben. Zu Recht?

Diese Regionen sind vergleichbar. Aber tatsächlich stellen diese Leute nur eine kleine Minderheit dar. Man darf nicht vergessen, dass auch eine ganze Menge wohlhabender Leute für den Brexit oder für Trump gestimmt haben. Zum Teil waren es die alten Industriegebiete, aber auch Kleinstädte und ländliche Regionen außerhalb der großen Städte und der dynamischen Zonen der New Economy. Es geht um viel mehr als nur um den Neoliberalismus: um die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen jung und alt.

Manche Linke sehen den Aufstieg des Rechtspopulismus als Reaktion auf den Neoliberalismus der Sozialdemokraten, die die Arbeiterklasse vernachlässigt hätten.

Natürlich äußert sich darin auch eine Enttäuschung über die neoliberale Politik der Blair-Regierung, der Clintons oder an den neoliberalen Reformen wie Hartz IV in Deutschland. Sie haben die Verunsicherung in der Arbeiterklasse verschärft. Aber die extreme Rechte feiert auch in Nordeuropa große Erfolge, in den Niederlanden, Dänemark, Finnland und Norwegen, die zu den stärksten Wohlfahrtsstaaten und egalitärsten Ländern der Welt gehören. Da geht es viel mehr um kulturelle Fragen, etwa um die Angst vor dem Islam.

Keine ökonomische, sondern eine kulturelle Verunsicherung?

Die nordischen Länder waren kulturell lange Zeit sehr homogen, erst in den vergangenen Jahren sind mehr Menschen aus anderen Teilen der Welt zugewandert. Und die Fragen, die durch die Präsenz des Islam aufgeworfen werden, bereiten vielen Leuten Unbehagen. Da gibt es ein Wechselspiel zwischen zwei Spielarten des Konservatismus: Auf der einen Seite ziehen sich manche Muslime verstärkt in ihre religiöse Identität zurück. Auf der anderen Seite reagieren Teile der Mehrheitsgesellschaft darauf, indem sie konservativer werden.

1944 in London geboren, wurde 2005 durch sein Buch „Postdemokratie“ bekannt. Der Politologe ist heute Auswärtiges Mitglied am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und Fellow der British Academy. Crouch lehrte in Oxford, Florenz und Warwick.

Manche Linke halten den Brexit für eine gute Sache und hoffen, dass Trump das Ende des Neoliberalismus einläutet, weil er gegen den Freihandel und für Protektionismus ist.

Sie hegen nostalgische Gefühle für souveräne Nationalstaaten. Es stimmt ja, dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ein nationales Projekt war. Aber wenn man sich in eine größere Welt integriert und in mehreren Fragen seine Souveränität teilt, dann kann man nicht mehr zum ursprünglichen Zustand zurückkehren, ohne nationalistisch zu werden.

Was ist die Alternative?

Die Linke hat keine andere Wahl, als den Prozess der Internationalisierung zu gestalten. Es stimmt, dass die EU ein neoliberales Projekt geworden ist, und manche Dinge gehen in die falsche Richtung. Aber die EU ist mehr als das, wenn wir etwa an die Hilfe für Infrastrukturprojekte in Osteuropa denken. Und wenn der Binnenmarkt mit hohen Produktstandards einhergeht, die für eine hohe Qualität bürgen, dann ist er ein gutes Beispiel dafür, wie man Freihandel mit einem Bündel an Regeln verbinden kann.

Sie haben nicht prinzipiell etwas gegen Freihandelsabkommen?

Ein Handelsabkommen mit den USA, in dem wir die amerikanischen Regeln für den Finanzmarkt übernehmen, die viel strenger sind als in Europa, und wir es schaffen, dass sie unsere Lebensmittelbestimmungen akzeptieren – wenn man das beste aus beiden Welten verbindet, ist das viel besser als eine Rückkehr zum Protektionismus. Das Freihandelsabkommen mit Kanada geht in diese Richtung.

Die Rechtspopulisten wollen die Vorteile der Globalisierung genießen, ohne deren Konsequenzen in Kauf zu nehmen, wie etwa die Immigration?

Unser Außenminister Boris Johnson sagte neulich, in Abwandlung einer bekannten britischen Redensart: Wir werden unseren Kuchen behalten – und ihn essen.

Wie will er das machen?

Die Briten glauben, sie seien so wichtig, dass der Rest der Welt für uns eine Ausnahme machen werde. Sie träumen von der Wiedererrichtung des britischen Empires als Handelsunion. Das erste Land außerhalb Europas, das Theresa May nach dem Brexit-Referendum besucht hat, war Indien – in der Hoffnung, dort ein Handelsabkommen schließen zu können.

Die Rückkehr zu vergangener Größe ist eine starkes Motiv, wie der Slogan „Make America Great Again“ zeigt.

Es gibt dieses weitverbreitete Gefühl, nicht mehr die Herren der Welt zu sein. Diesen Phantomschmerz haben die Briten auch. Es war eine der großen Errungenschaften der 1950er und 1960er Jahre, dass wir unser Empire unter weniger großen Schmerzen aufgegeben haben als die Franzosen oder Belgier. Aber es kommt alles wieder zurück.

Auch die Debatten um Immigration?

Ja. In den 1950er Jahren gab es große Spannungen und Leute wie Enoch Powell, die versucht haben, Stimmung gegen Einwanderer zu machen. Aber wir haben große Fortschritte gemacht, wie man etwa an der Zahl bikultureller Ehen ablesen kann. In den Wochen nach dem Brexit-Referendum kam es in vielen Familien zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Enkeln, die ihren Eltern und Großeltern vorwarfen, sie um ihre Zukunft gebracht zu haben. Im ganzen Land gab es einen Ausbruch der Wut darüber, dass ihre multikulturelle Identität infrage gestellt wurde.

Wieso haben gerade die Einwanderer aus Osteuropa diese Debatte ausgelöst? Man würde denken, sie könnten den Engländern näherstehen als die Einwanderer aus Indien und der Karibik?

Die Zuwanderung aus Europa, im Kontext der EU, hat es ermöglicht, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Und das hat zu einer Reihe von anderen Debatten geführt, über die anderen Minderheiten aus Pakistan oder der Karibik. Der Brexit hat einen Diskurs legitimiert und Dinge an die Oberfläche gebracht, die lange unter der Oberfläche geschlummert haben.

Trump spricht von den „vergessenen Amerikanern“, die nicht länger vergessen sein werden, und meint damit die weiße untere Mittelschicht. Dabei kann man nicht behaupten, dass Weiße in den USA gegenüber Schwarzen oder Latinos benachteiligt wären, oder?

Es gibt eine Reihe von Ungleichheiten, über die regelmäßig gesprochen wird: ethnische Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Aber wenn du ein weißer männlicher Arbeiter warst, hat sich niemand für deine Probleme interessiert. Leute, denen es nicht allzu gut geht, nehmen zur Kenntnis, dass es bestimmte Fördermaßnahmen für Schwarze oder Latinos gibt, und fragen sich: Wo bleibe ich? Der Eindruck ist: Alles dreht sich um diese Minderheiten.

Also geht es in erster Linie um Anerkennung und nicht um ökonomische Umverteilung?

Ja, so würde ich das ausdrücken.

Die britische Premierministerin Theresa May scheint das verstanden zu haben: Sie hat versprochen, sich den Sorgen und Nöten der britischen Arbeiter zuzuwenden.

In ihrer Rede hat sie sogar das Wort „Arbeiterklasse“ benutzt! Tony Blair hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als dieses Wort in den Mund zu nehmen!

Auch Donald Trump klingt manchmal wie ein Arbeiterführer, wenn er gegen den Freihandel wettert und Infrastrukturprojekte verspricht, aber er steht für eine unsoziale Politik. Wählen die Leute gegen ihre ökonomischen Interessen?

Gefühle sind nicht notwendigerweise irrational. Es gab dieses interessante TV-Interview mit Nigel Farrage, dem Ukip-Chef, zum Brexit, in dem er mit all diesen Prognosen über den drohenden ökonomischen Niedergang konfrontiert wurde. Er hat nur gesagt: Geld ist nicht alles. Wichtiger sind Werte wie der, eine homogene Nation zu sein. Das stellt alle bisherigen Debatten auf den Kopf. Denn früher waren es die Linken, die mit Werten argumentiert haben, während die Rechten immer auf die ökonomischen Vorteile hingewiesen haben.

Was ist die Antwort auf den Rechtspopulismus? Manche sagen, wir bräuchten mehr plebiszitäre Elemente, mehr Referenden.

Referenden sind eine komische Sache. Die Leute antworten oft nicht auf die Fragen, die du ihnen stellst, sondern belohnen oder bestrafen ihre Regierung. Die Referenden werden auf eine Art und Weise genutzt, die oft nichts mehr mit der Frage zu tun hat. Aber man kann die Demokratie auf lokaler Ebene stärken. Die große Herausforderung ist, wie man mit den extremen Rechten umgeht. Je mehr die anderen Parteien ihnen entgegenkommen, desto salonfähiger wird ihre Rhetorik.

Droht den USA die Gefahr eines Autoritarismus, wie wir ihn schon aus Ungarn, Polen oder der Türkei kennen?

Trump hat seine Unternehmen an seine Kinder vermacht, aber sie sind zugleich Teil seines Regierungsteams. Das hat schon jetzt etwas von einem Mafia-Clan, einer Kleptokratie. Aber das Problem ist: Wenn die republikanische Mehrheit im Kongress auf seiner Seite ist, dann wird er das oberste Gericht neu besetzen, Abtreibungen verbieten, Obamas Gesundheitsreform abschaffen. Aber was genau die Ideologie des Trumpismus ist, muss sich noch zeigen.

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