Frisch undenergetisch

FILMREIHE „Elektrizität und Enthusiasmus“ im Zeughauskino präsentiert sowjetische Filme nach der Oktoberrevolution 1918

Dziga Wertows „Enthusiasmus. Die Donbass-Symphonie“ feiert die mit dem ersten Fünfjahresplan angestrebte Industrialisierung Foto: Promo

von Fabian Tietke

Mühsam kämpft sich der ehemalige Unteroffizier Filimonow in Friedrich Ermlers Film „Trümmer des Imperiums“ ins neue Leben der Sowjetunion zurück. Während des Ersten Weltkriegs hat er wegen eines Schocks sein Gedächtnis verloren, erlebte die Wirren des Bürgerkriegs, der das Land nach der Revolution erschütterte, als Bahnarbeiter. Zehn Jahre nach Kriegsende kehrt Filimonow schließlich nach Sankt Petersburg zurück und erkennt es nicht wieder: Wo einst ärmliche Häuschen standen, stehen nun prächtige Wohnblöcke. Auf der Suche nach Orientierung wagt Filimonow schließlich einen Besuch beim Besitzer der Fabrik, in der er vor dem Krieg gearbeitet hat. Sie wurde enteignet, und Filimonow begibt sich auf die Suche nach einem Herrn Fabkom, ohne zu ahnen, dass die Abkürzung für Fabrikkomittee steht. Neue Zeiten allenthalben.

Ermlers Film „Trümmer des Imperiums“ eröffnet am Samstag eine kleine Filmreihe unter dem Titel „Elektrizität und Enthusiasmus“, die sich dem Aufbruch in eine neue Zeit im sowjetischen Kino kurz nach der Revolution widmet. Die Filme sind allesamt als Meisterwerke kanonisiert, und doch beeindrucken bei der erneuten Begegnung mit ihnen ihre nicht ungealterte Frische und Energie.

Kaum eine andere Kinobewegung hat die Entwicklung des Films so sehr geprägt wie das sowjetische Kino in den ersten zehn, fünfzehn Jahren nach der Revolution. Die Suche nach Darstellungen für die neue Realität, für das neue Selbstverständnis führte Friedrich Ermler, Sergej Eisenstein, Dsiga Wertow und andere zu neuen Filmformen. Die Filmemacher der jungen Sowjetunion wandten sich der Bildmontage zu und nutzten sie, um Kontraste hervorzuheben. Rhythmisierung und Bewegung der Bilder sollten den Aufbruch in den Filmen nicht nur zu zeigen, sondern sie wurden zum Gestaltungsprinzip.

Eisenstein und Wertow sind die heute berühmtesten Vertreter dieser Bewegung. Während Eisenstein diese Prinzipien vor allem in Spielfilmen wie seinem letzten Stummfilm „Die Generallinie“ anwendete, nutzte Wertow die gleichen Mittel für den damals neu entstehenden langen Dokumentarfilm. In „Das elfte Jahr“, gemeint ist nach der Revolution von 1917, montiert er Aufnahmen der Bauarbeiten am Dneprostroj-Wasserkraftwerk. Der Film beginnt mit Aufnahmen der Stromschnellen, nach und nach kommen immer mehr Aufnahmen der Bauarbeiten an der Talsperre hinzu. Die Arbeiten erscheinen wie eine gigantische, reibungslos arbeitende Maschine, die der Natur das Bauwerk abtrotzt. Das Ende des Films unterstreicht die Möglichkeiten, die die neu gewonnene elektrische Energie bietet – im Alltag als Glühbirne („Lenins Lämpchen“), vor allem aber für die Industrie. Wertow rhythmisiert den Fluss der Bilder und überträgt so die in den Bildern gezeigte Energie in den Film.

Die Filmemacher der jungen Sowjetunion wandten sich der Bildmontage zu

1929 reiste Wertow durch Europa, um seine Gestaltungsprinzipien in dem Vortrag „Was ist das Kinoauge?“ vorzustellen. Der Titel rekurriert auf die Wochenschau „Kinoglaz“, Kinoauge, an der Wertow federführend beteiligt war. In der Weltbühne schreibt Wertow schließlich: „Mein Film bedeutet … Kampf zwischen gewöhnlichem Sehen und Kinosehen, Kampf zwischen Realraum und Kinoraum, Kampf zwischen Realzeit und Kinozeit.“

In diesem Antinaturalismus liegt denn auch das Geheimnis der Alterslosigkeit der Filme, die nun noch einmal im Zeughauskino zu sehen sind: Auf der Suche nach kinoeigenen Gestaltungsformen für das Kinobild haben Ermler, Wertow, Eisenstein und Co. Grundlagenarbeit für den Film im Allgemeinen betrieben. Das zeigte sich durch die Zeiten immer wieder.

Als Anfang der 1940er Jahre ein Film über die Grand-Coulee-Talsperre in den USA entsteht, orientiert sich dieser auf der Bildebene weitgehend an den Gestaltungsprinzipien von Wertows Film. Mitte der 1960er entdecken die Filmemacher des Pariser Mai 1968 um Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin Wertow wieder und wählen ihn zum Namenspatron ihrer Gruppe. Bei der Besetzung der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin im Herbst 1968 wird diese von den Studierenden in „Dziga-Wertow-Akademie“ umbenannt. Für die in jenen Jahren beliebten agitativen Kurzfilme standen Wertows Kino-Auge-Wochenschauen Pate.

Elektrizität und Enthusiasmus, Zeughauskino, 3. bis 4. 12.