Berliner Szenen: Alle starren uns an

„Ach, die Arme!“ Was unser Autor erlebt, als er mit seiner geistig behinderten Schwester in die Straßenbahn steigt.

Innenperspektive aus einem Bus: So schön festlich rauscht dieser Tage die Stadt vorbei. Foto: dpa

Meine Schwester kann nicht einfach in den Zug steigen. Sie kann nicht lesen, kann mit Geld nicht umgehen und hat auch keinerlei Zeitempfinden, sie ist geistig behindert. Sie lebt in einem Behindertenwohnheim im Mecklenburgischen und geht in einer Behindertenwerkstatt malochen – das aber macht sie eher ungern. Immer nur Schrauben sortieren ist ja auch ein doofer Job. Bis auf einmal, als ich sie zur Weihnachtszeit in der Werkstatt abgeholt habe. Da waren sie gerade dabei, kartonweise Schokoladenengeln Flügeln aus Papier anzukleben, und jeder vom Transport demolierte Schokoladenengel durfte aufgegessen werden.

Apropos Transport: Ich hatte mal die Idee, dass mich meine Schwester in Berlin besuchen kommt. Das musste in Begleitung passieren. Ein Zivildienstleistender übergab mir meine Schwester am Bahnhof. Sie freut sich immer riesig, wenn sie mich sieht. „Das ist mein Bruder!“, wiederholt sie dann gebetsmühlenartig.

Als wir in die Tram einsteigen, ist kein Sitzplatz frei. Ich muss Tickets am Automaten ziehen und lasse meine Schwester an einer Haltestange stehen, alles ist gut – bis die Straßenbahn losfährt. Sie fängt an zu schreien: „Ahhh! Will sitzen! Ahhh!“ Jetzt gucken alle Fahrgäste auf uns. Schon ertönt die Stimme einer alten Dame: „Ach, die Arme!“ Ich höre: „Der böse Bruder!“ Alle starren uns an. Mir ist das peinlich, meiner Schwester aber ist nie irgendetwas peinlich.

Zum Glück räumt jemand seinen Sitzplatz in unmittelbarer Nähe, und meine Schwester wird wieder ruhig. Als wir umsteigen müssen, weigert sie sich aber partout, wieder in die Straßenbahn zu steigen. Sie will lieber zu Fuß laufen. Das dauert. Danach hat sie mich nie wieder in Berlin besucht.

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