Aktivisten mit Behinderungen: Lieber mit Watte werfen

Verständnis oder Aggression – diese Frage stellt sich oft. Aber wie wirken behinderte Menschen Diskriminierung am besten entgegen?

Steinhaufen auf der Straße

Buddeln ist besser als werfen Foto: ap

Aktivismus ist wichtig. Aktivismus ist kompliziert. Und Aktivismus kann einer Gruppe entweder immens helfen oder ihr nahezu irreparabel schaden. Eine Formel für „guten“ oder „richtigen“ Aktivismus gibt es nicht.

In den 1950er und 1960er Jahren waren die USA kein guter Ort für schwarze Amerikaner. Noch weniger gut als heute, und das soll etwas heißen. Mit dem Kampf gegen Rassentrennung sind zwei Namen eng verbunden: Martin Luther King und Malcolm X.

Der eine steht für friedlichen Protest. Der andere ist die Personifizierung des gewaltsamen Widerstands. Im Kontext der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und im Licht der Zustände, in denen schwarze Amerikaner leben mussten und teilweise noch immer leben müssen, ist der radikale Ansatz, den Malcolm X bis kurz vor seiner Ermordung vertrat, verständlich.

„Ich halte es für ein Verbrechen, wenn jemand, der brutaler Gewalt ausgesetzt ist, sich diese Gewalt gefallen lässt, ohne irgend etwas für seine eigene Verteidigung zu tun“, sagte Malcom X einmal. „Und wenn die ‚christliche‘ Lehre so auszulegen ist, wenn Gandhis Philosophie uns das lehrt, dann nenne ich diese Philosophie kriminell.“

Das ist ein Zitat, das verdeutlicht, dass er Verteidigung in dem Moment als rechtens ansieht, in dem jemand brutaler Gewalt ausgesetzt ist. Aber das hier ist kein Text über schwarze Amerikaner. Es ist ein Text über behinderte Aktivisten.

Morde an Behinderten

Auch Menschen mit Behinderung werden diskriminiert. Manchmal sogar umgebracht. So wie im Juli dieses Jahres: Der Japaner Satoshi Uematsu erstach 19 Menschen mit Behinderung und verletzte 26 weitere, 13 davon schwer. Es wäre besser, wenn „Behinderte verschwinden“, begründete er die Morde.

Charles-Antoine Blais, ein 10 Jahre alter autistischer Kanadier, wurde 1996 von seiner Mutter Danielle Blais in der Badewanne ertränkt. Sie wurde dafür wegen Totschlags verurteilt, nicht wegen Mordes – und später Vertreterin des Ortsverbandes der kanadischen Autism Society in Montreal. Es gibt eine Fülle weiterer Beispiele.

Und auch wenn man uns nicht umbringt, werden Behinderte noch oft als Menschen zweiter Klasse betrachtet, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Partnersuche. Trotzdem ist die Diskriminierung, die wir erfahren, eine andere als die der schwarzen Amerikaner in der Vergangenheit und Gegenwart. Natürlich müssen wir uns wehren. Nur: Wie machen wir das am wirkungsvollsten? Ich denke: immer daran bemessen, welches Unrecht uns angetan wird.

Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.

Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.

Ich bin der Meinung, dass Aktivisten sich häufig selbst ins Bein schießen. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich auf die Gruppe, der ich angehöre: Autisten. Über andere Aktivistengruppen innerhalb der Behindertenrechtsbewegung kann ich kaum etwas sagen, weil wir, leider, kaum zusammenarbeiten.

Bei Twitter aktiv

Ein Beispiel: Ich war jahrelang auf Twitter aktiv. So wie viele andere Autisten auch. Sie versuchen, die gute Sache – die Gleichheit und Sichtbarkeit von Autisten – auf diesem Weg voranzutreiben. Keine schlechte Idee. Medien, auch soziale, sind ein bewährter Katalysator für marginalisierte Gruppen. Natürlich gibt es bei Twitter aber auch auch viele neurotypische Menschen, also Nicht-Autisten. Und immer wieder liest man auf Twitter, wie jemand den Begriff „Autismus“ missbräuchlich verwendet. Weit jenseits einer Diagnose nämlich.

Auch weit über Twitter hinaus hat der Begriff „Autismus“ eine Renaissance als Metapher erfahren – besonders in den vergangenen Jahren. Er muss für alles herhalten, was mit Eigenbrötlerei oder Egozentrismus zu tun hat, gern im politischen Kontext.

Das ist für Autisten nicht sonderlich angenehm. Um darauf aufmerksam zu machen, hat es sich eingespielt, dass sich eine Gruppe von Autisten auf den Übeltäter stürzt, der den Begriff Autismus missbraucht. Dabei wird oft gar nicht mehr freundlich darauf hingewiesen, dass die Verwendung eines klinischen Begriffs, einer Diagnose, die Menschen tatsächlich haben, ungeeignet ist. Dass man sich davon verletzt fühlt.

Das Gegenüber auf Twitter wird nicht darum gebeten, eine solche Verwendung des Begriffs künftig zu vermeiden. Stattdessen werden die Twitter-User schon in der ersten Reaktion auf ihren Fehltritt beschimpft. Ich bin nicht der Meinung, dass diese Vorgehensweise irgendwem hilft.

Autismus ist keine Metapher

Die Verwendung von Autismus als Metapher zieht sich bis in den akademischen Bereich. So steht im „Lexikon der Politikwissenschaft“, 2010 herausgegeben von Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze, folgende Definition: „Autismus (aus griech. autós = selbst), allg. krankhafter Zustand extremer Selbstbezogenheit durch den Verlust des Kontaktes zur unmittelbaren und mittelbaren sozialen Umwelt. Der aus der Psychologie stammende Begriff meint i. w. S. auch die Lernunfähigkeit von Kollektiven, polit. Organisationen und Staaten und deren Resistenz gegenüber sozialem Wandel. In der Politikwiss. Werden als autistisch v. a. jene Nationen, Staaten und Gesellschaften bezeichnet, die sich im System internationaler Politik und Beziehungen durch Selbstbezogenheit auszeichnen.“

Definitionen wie diese tragen dazu bei, dass die falsche Verwendung von Autismus als Metapher in den allgemeinen Sprachgebrauch einsickert. Denn: Sprache verselbstständigt sich. Begriffe werden entfremdet und für alles Mögliche benutzt.

Wir müssen uns wehren. Aber eben immer daran bemessen, welches Unrecht uns angetan wird

Was also tut man dagegen? Man kann sagen, dass man es als ein Unding empfindet, dass so etwas in einem Lexikon aufgeführt wird. Man kann sich als Reaktion darauf an die Autorin, den Autor des Abschnitts wenden. Oder aber man beschimpft unbedachte Nutzer sozialer Medien gleich als „Arschloch“ – ohne vorher die Unterhaltung mit ihnen gesucht zu haben.

In meinen Augen ist es perfide, eine Diagnose als negativ konnotierten Ausdruck in den allgemeinen Sprachgebrauch aufzunehmen. Das gilt nicht nur für „autistisch“, sondern auch für „Spasti“, „behindert“, „schizo“ und eine ganze Reihe weiterer Beispiele. Es ist heute nahezu überall Konsens, dass „schwul“ keine gute Wortwahl ist, um etwas doof zu finden. Ich bin mir sicher, dass wir es schaffen, „autistisch“ ebenfalls in den Kodex der sprachlichen No-Gos zu erheben.

Online-Beschimpfungen schaden

Ich bin mir aber auch sicher, dass das Beschimpfen fremder Menschen im Internet nicht maßgeblich zum Erreichen dieses Ziels beiträgt. Benutze ich als Außenstehender das Wort „Autist“ für jemanden, der sich wie die Axt im Walde verhält, und werde, ohne mir einer Schuld bewusst zu sein, daraufhin direkt und über mehrere Tweets hinweg verbal angegriffen, dann werde ich vermutlich nicht daraus lernen, dass mein Verwenden des Begriffs schmerzhaft und unangebracht war. Ich lerne vermutlich eher, dass ich ziemlich recht hatte. Und das schadet im Endeffekt uns allen.

Wir Autisten müssen uns wehren. Wir müssen laut sein und penetrant. Wir müssen uns für unsere Rechte und unsere Sichtbarkeit starkmachen. Keine Frage. Aber vielleicht schaffen wir mehr, wenn wir mit weniger Aggression und mehr Verständnis vorgehen. Nichts liegt mir ferner als victim blaming. Aber wir gehen die Sache falsch an. So kann Aktivismus, davon bin ich überzeugt, nicht erfolgreich sein.

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