Flucht aus Eritrea und dem Sudan: Der Weg durch die Wüste

Für viele Eritreer ist selbst die Diktatur im Sudan ein Zufluchtsort. Doch eine Perspektive haben sie dort nicht. Viele fliehen weiter.

Almaz wächst bei ihrem Vater Aaron auf, Schwester und Mutter sind vermisst Foto: Swinde Wiederhold

KARTHUM/BERLIN taz | Auf eine Spritze hatte Eden* verzichtet. Eine Spritze, um nicht schwanger zu werden, auf der Flucht durch die Sahara, bei der, so heißt es, zwei von drei Frauen vergewaltigt werden. „Wir dachten, dass man eine Frau mit einem Baby im Arm nicht so schnell vergewaltigt“, sagt Aaron*, ihr Mann, der den Weg durch die Wüste nicht gehen wollte. „Und dass die beiden so vielleicht mehr zu essen und zu trinken bekämen.“

Kurz vor ihrer Abreise lädt Eden ein neues Bild bei Facebook hoch. Eine zierliche junge Frau mit Hochsteckfrisur, weißen Blumen im Haar, rotem Oberteil und tiefem Dekolleté. Edens lange Nägel sind weiß lackiert, ihre Lippen geschminkt, der Blick erwartungsvoll. „Du bist schön“, steht darunter.

Zwei Jahre später strömt der Duft von Kardamon und Kaffee durch Aarons Hütte. Glatt rasiert, in einem ungebügelten Hemd, sitzt der 29-jährige Eritreer auf dem Sofa. Auf seinem Schoß die Tochter Almaz*, fünf Jahre, ein stilles Mädchen mit Pferdeschwanz. Im Fernsehen läuft ein Trickfilm, die Wand des Wohnzimmers ist löchrig, rosa gestrichen. Es sind über vierzig Grad in Khartum, der Hauptstadt des Sudan, doch im Viertel Deim hat kaum jemand eine Klimaanlage. Die meisten Bewohner sind Flüchtlinge aus Eritrea oder Äthiopien.

Aaron streicht Almaz übers Haar, während sie auf den Fernseher schaut. Er hat sie heute nicht in den Kindergarten geschickt, weil ihr am Morgen übel war. Ihr darf nichts geschehen. Er will nicht auch noch sie verlieren.

Zu viele Möglichkeiten

Vielleicht Gefangene des IS

Früher waren sie mal zu viert. In einem anderen Leben. Einem Leben, das am 27. Juni 2014 endete. Da verliert sich die Spur von Aarons Frau Eden und dem Baby Mariam*.

Vielleicht liegen ihre Leichen auf dem Grund des Mittelmeers.

Vielleicht werden Eden und Mariam irgendwo gefangen gehalten. Im Jemen, in Tunesien oder Libyen.

Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.

Vielleicht sind sie in den Händen des „Islamischen Staates“.

Jeden Tag geht er im Kopf diese Möglichkeiten durch, sagt Aaron. „Miss you, Amore“ schreibt er sieben Tage nach ihrem letzten Telefonat auf die Facebook-Pinnwand, unter das Bild seiner Frau.

Aaron kann sich von seiner Frau und dem Baby nicht verabschieden, als die beiden aufbrechen, nach Schweden, wo sie ein besseres Leben finden will. „Plötzlich kam der Anruf des Schleusers, und alles ging ganz schnell.“ Es ist mitten am Tag, der 31. Mai 2014, Aaron bei der Arbeit. Als er am Abend nach Hause kommt, ist Eden schon weg. Mariam hat sie mitgenommen, wie es besprochen war.

In Eritrea ist Landesflucht eine Straftat

Die Fahrt durch die Wüste überleben die zwei. Anders als drei ihrer Mitreisenden, die verdursten, als der LKW eine Panne hat und vier Tage halten muss, mitten in der Sahara. Am 27. Juni dann klingelt sein Telefon, Eden ist in Libyen. Sie klingt erschöpft, aber zuversichtlich. Nur vor dem Meer fürchtet sie sich. Schwimmen kann sie nicht richtig. „Mach dir keine Sorgen und bete“, sagt Aaron.

Er selbst scheute den Weg durch die Sahara mit ihnen.

Er wusste, was sie erwartete.

Er hatte es selbst schon einmal versucht.

Mit 20 flüchtet Aaron aus Eritrea, vor dem Zwangsdienst beim Militär. Ein Abschied für immer. Landesflucht ist in Eritrea eine schwere Straftat. Eines Nachts, Ende 2007, macht er sich mit ein paar Freunden trotzdem auf den Weg. Sie fürchten die eritreischen ebenso wie die sudanesischen Grenzer. Sie werden von Eritrea dafür bezahlt, Flüchtende wieder zurück über die Grenze in ihr Heimatland zu bringen, heißt es. Beide Staaten sind heute Partner der EU in Sachen Migration, sie bezahlt sie für die Ausbildung ihrer Grenzschützer.

Im Sudan kommt Aaron in das Lager „Kilo 26“ bei Wad Sherife. Er ist auf sich allein gestellt. Kein sauberes Wasser, keine Jobs, kaum medizinische Versorgung. Nach sechs Uhr abends traut sich keiner mehr raus. Draußen sind Männer mit Waffen. „Sogar die Polizisten hatten Angst vor ihnen,“ sagt Aaron. Die Männer entführen Flüchtlinge, erpressen Lösegeld von ihren Familien. Dabei hat der Geheimdienst alle Bewegungen im Lager genau im Blick. Er verhört jeden Ankommenden. Um Informationen über Schleuser zu sammeln, heißt es. Doch viele im Sudan sagen, Beamte seien in das Schleusergeschäft verwickelt.

Für 125 Dollar bringt ein Schlepper Aaron nach Khartum. Das schreibt vor, dass alle Flüchtlinge im Sudan in Camps leben müssen. Leben, arbeiten darf Aaron in Khartum nicht. Nur im Flüchtlingslager. Aber da gibt es keine Arbeit. „Wir sind ein sehr offenes Land. Flüchtlinge sind bei uns willkommen, sie können tun und lassen, was sie wollen. Die meisten reisen ja sowieso weiter“, sagt ein hoher Beamter der taz.

Nie wieder Wüste

Auch Aaron will weiter. Er macht sich auf den Weg durch die Wüste. Kurz vor der Grenze zu Libyen, kehrt er um, völlig entkräftet, eben so mit dem Leben davon gekommen. Nie wieder, schwört er sich.

So wird der Sudan seine neue Heimat. Arbeit findet er in einer Bäckerei, schwarz. 15 Stunden pro Tag, 3,50 Dollar Lohn pro Tag. Er schläft in der Backstube, spart so die Miete.

Eden, damals noch seine Freundin, will er nachholen. Sie versteckt sich in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea – so entgeht sie dem Zwangsdienst beim Militär, den auch unverheiratete Frauen leisten müssen. Aaron will sie in den Sudan schleusen lassen. 2010 geht Eden die Geduld aus. Sie macht Druck, will weg aus Eritrea, weg aus ihrem Versteck, zu ihrem Freund. Seit über zwei Jahren hat sie Aaron nicht mehr gesehen. Ein Verwandter Edens arbeitet als Schleuser. Er will sie für umgerechnet 170 Euro über die Grenze bringen. Viel weniger, als der sonst übliche Preis. Bedingung: Eden schafft als Gegenleistung sieben neue Kunden heran. Aaron will das nicht, doch Eden setzt sich durch. Wenige Monate nach ihrer Ankunft in Khartum heiraten die beiden. Im kleinen Kreis. Freunde hat Aaron noch nicht viele im Sudan.

Ihr erstes Kind wird geboren. Sie nennen es Almaz. Kurz vor der Geburt geht die Viehexport-Firma pleite, bei der Aaron Arbeit gefunden hatte. Jetzt putzt er tagsüber Häuser und Büros, kellnert abends. Wieder alles ohne Arbeitserlaubnis. Trotz allem ist Aaron nicht unzufrieden. Nur daheim ist die Stimmung immer angespannter. Kurz nach der Geburt von Almaz wird Eden erneut schwanger. Ungeplant. Das Geld ist knapp. Draußen ist es zu gefährlich. Aaron will nicht, dass sie festgenommen wird. Eden hält es nicht aus, eingesperrt zu sein, ohne Arbeit, ohne Perspektive, ohne Freunde. Eden redet immer häufiger von der Flucht nach Europa. Ihre Familie in Eritrea bestärkt sie darin.

Aaron versucht, ihr dies auszureden. Aber Eden setzt sich wieder durch: Sie will nach Schweden. „Weil es da keine Diskriminierung gibt“, sagt Aaron. „Und weil die großzügig und schnell sind bei Familienzusammenführungen.“ 3.800 Dollar soll Edens Reise nach Italien kosten. Kleinkinder nehmen die Schlepper umsonst mit. Etwas Geld hat Aaron zur Seite gelegt, den Rest steuern Verwandte und Freunde bei.

„Glückwunsch“ und dann: Nichts

Als Eden Aaron am 27. Juni 2014 aus Libyen anruft und ihm sagt, dass sie nun ins Mittelmeer aufbrechen, stellt er sich darauf ein, ein paar Tage nichts von ihr zu hören. Fünf Tage kann die Reise dauern. Er ist gefasst. Größere Angst hatte er, als sie noch in Libyen waren. Einer seiner Nachbarn wurde vom „Islamischen Staat“ gekidnappt.

„Glückwunsch“ sagt der Schleuser

An dem Wochenende, an dem Eden in See stechen soll, geraten mehrere Boote in Seenot. Doch über 5.000 Flüchtlinge werden innerhalb von 24 Stunden gerettet. Aaron verfolgt die Nachrichten. Dass die italienische Küstenwache so gut zu funktionieren scheint, beruhigt ihn. Die Reise von Eden hat eine Gruppe von drei Schleuern, unter ihnen der Eritreer Measho Tesfamariam, organisiert. Aaron hat ihn in Khartum kennengelernt. Sechs Tage nach dem vermeintlichen Ablegen des Bootes ruft Aaron bei den Schleusern an. Die Gruppe sei bereits in Italien angekommen, sagt der Schleuser. „Glückwunsch“. Dann legt er auf.

Aaron beginnt zu zweifeln. Warum hört er nichts von seiner Frau, wenn sie doch gut angekommen ist? Immer wieder ruft er den Schleuser an. Der geht nicht mehr ans Telefon. Ein Boot soll untergegangen sein. Mindestens 242 Passagiere werden vermisst. Auch Kinder sollen unter ihnen sein. Aaron sucht Familien, die Angehörige auf dem vermissten Boot haben. Sie gründen eine Facebook-Gruppe. Fast täglich tauschen sie sich aus. Die italienische Küstenwache sagt, ihr lägen keine Informationen über ein gesunkenes Schiff vor.

Am 2. Dezember 2014 nimmt ein mobiles Einsatzkommando der Bundespolizei in Müncheberg bei Berlin einen 29-jährigen Eritreer fest. Er soll unter anderem die Überfahrt von 244 afrikanischen Bootsflüchtlingen aus Libyen organisiert haben. Das Boot wird vermisst, niemand weiß, was mit den Insassen geschah. Es sollte an dem Tag starten, an dem Eden und Mariam aufbrechen wollten. Die Zeitung nennt ihn den „Todesschleuser“. Sein Name: Measho Tesfamariam.

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