Die Wahrheit: Das Süppchen in der Sofaritze

Manchmal entdeckt man Orte, in denen es dauerregnet. Dann braucht es wenigstens eine Kleinigkeit, die einem über das Elend hinweghelfen kann.

Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester ist so etwas wie die Sofaritze des Jahres. In dieser verwunschenen Woche kriecht durch den Briefkasten zurück in unser Leben, was wir längst vergessen und verflossen wähnten. Die entfernte Bekannte mit einer Erinnerung, das Finanzamt mit einer Mahnung. Und Gengenbach mit dem Rezept für „ein Sauerkraut-Forellensüppchen“. Gengenwas?

Ich hatte ja keine Ahnung. Vor zwölf Monaten wusste ich nicht, dass es einen Ort namens Gengenbach überhaupt gibt. Und vor ungefähr acht Monaten hatte ich es auch schon wieder vergessen. Irgendwann im Frühjahr aber muss ich mich auf die Suche nach einem Reiterhof für die Mädchen gemacht haben. Mädchen setzen sich mit ihren Ponys gern über die neuesten Forschungsergebnisse gewisser Zweige der Soziologie hinweg und wollen reiten, striegeln, Ställe ausmisten. Verrückt, ist aber so.

Also buchte ich uns für eine Woche in einem Hof unweit von Gengenbach ein. Es regnete nicht etwa sieben Tage durch. Es schiffte, wie es wohl nur im Schwarzwald schiffen kann. Während die Mädchen mit rot glühenden Wangen ritten, striegelten und misteten, zappte ich mich auf dem Zimmer durchs Fernsehprogramm oder stapfte einsam durch den Platzregen die Hügel hinauf, wo zwischen Tannen noch ein keltischer Opferstein zu besichtigen ist. Tagsüber prasselte der Regen, nachts brüllten im Stall nebenan die Kälber, als würden sie erdrosselt. Es war wundervoll. Wahrscheinlich war ich auch mal unten in Gengenbach, Maultaschen einkaufen im Nieselregen. Oder Weißwein.

Kaum waren seine architektonischen Beschaulichkeiten aus dem Rückspiegel verschwunden, hatte sich auch meine milde Erinnerung an Gengenbach verflüchtigt. Bis zu dieser Postkarte mit dem Motiv der verschneiten Jakobuskapelle „auf dem Bergle“, auf deren Rückseite mir „als kleine Abwechslung nach den Festtagen“ ein Forellen-Sauerkrautsüppchen ans Herz gelegt wird.

Kein traditionelles Süppchen, wie brandschatzende Schweden es sich 1643 über den brennenden Trümmern des Städtchens geköchelt haben mochten. Auch kein Süppchen, wie es 1799 überlieferungsgemäß Goethe vorgesetzt wurde („Genieße mäßig Füll und Segen, Freund, dem Gengenbacher Süppchen aber sprich’ maßlos zu!“), obwohl Goethe nie in Gengenbach war. Kein hippes Incentive, kein aggressives Pull-Marketing, keine fröhlichen Pop-ups, nichts über eingeheimste Preise oder bevorstehende Veranstaltungen, nicht einmal eine Suppe – ein Süppchen, und zwar nach der „Rezeptur von Hobbykoch Heinz Litterst, Gengenbach“. Das war’s. Der Heinz kennt ein Rezept. Nehmen wir doch das. So funktioniert „cutting edge“-Stadtmarketing 2016. Zumindest, wenn man mich ansprechen will.

Deshalb ist es ganz gleich, dass die Mädchen sich inzwischen mehr für Smartphones als für Pferde interessieren. Im Frühjahr geht’s wieder auf den Pferdehof bei Gengenbach. Dieses köstliche Süppchen werden wir gemeinsam auslöffeln.

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