Anschlag in Berlin

Der Massenmord in Nizza weist einige Parallelen mit Berlin auf:Die Tatwaffe, die Feierstimmung, die vielen toten Passanten

IS empfiehlt Doppelreifen

Strategie Die Terrormiliz propagiert als Mordinstrument schwere Lastkraftwagen. Das Attentat von Nizza mit 86 Toten gilt den Terroristen deshalb als vorbildlich

Effektive Mordwaffe: Aus Sicht der Dschihadisten war Nizza ein gelungener Terrorakt Foto: Valery Hache/afp

von Rudolf Balmer
und Beate Seel

Nizza, am Abend des 14. Juli 2016. Nach dem traditionellen Feuerwerk zum Nationalfeiertag hielt sich auf der Strandpromenade am Ufer der Côte d’Azur eine dichte Menschenmenge auf, Einheimische und Touristen, darunter viele Familien mit Kindern.

Zunächst hatte niemand den 19-Tonnen-Lkw bemerkt, der kurz vor 22.30 Uhr auf den für jeden Verkehr gesperrten Abschnitt der Promenade des Anglais zufuhr. Am Steuer saß der in Nizza wohnende Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel. Niemand ahnte, was er vorhatte. Auf den letzten hundert Metern beschleunigte er und umfuhr eine simple Polizeisperre aus einem quergestellten Patrouillenwagen und einem Metallzaun, indem er sein Fahrzeug auf das breite Trottoir der Promenade lenkte. Da hatte sein Laster bereits die ersten Menschen überfahren und getötet.

Erst jetzt begriffen die Leute, dass dies der eigentliche Zweck dieser Raserei war. Denn der Lkw fuhr im Zickzackkurs vorsätzlich in die Menge. Ein Mann, der die Mordabsicht begriffen hatte, verfolgte den 19-Tonner mit seinem Motorroller und versuchte heldenhaft, aber vergeblich, die Tür der Fahrerkabine zu öffnen. Wenig später schossen Polizisten mit ihren Dienstpistolen, um das Fahrzeug und den Lenker zu stoppen, der selbst mehrmals aus einer Waffe auf sie feuerte. Als der Lkw mit zerschossenen Reifen schließlich anhielt, töteten zwei Beamte den vermutlich verletzten Lahouaiej-Bouhlel.

Seine Todesfahrt auf einer Länge von 1,7 Kilometern hatte mehr als eine Viertelstunde gedauert. Bei dem Massaker starben 86 Menschen, mehr als 400 wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Wenig später teilte die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) über ihre üblichen Propagandakanäle mit, der Täter habe in ihrem Sinn und Auftrag gehandelt.

Nach dem Attentat auf den Konzertsaal Bataclan und den gleichzeitigen Angriffen auf Pariser Cafés und das Stade de France am 13. November 2015 war dies der schrecklichste Anschlag der dschihadistischen Terroristen in Frankreich. Doch anders als beispielsweise bei dem Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo oder am 13. November zeigten sich schnell Risse in der breiten Solidarität.

Es hagelte in Nizza Vorwürfe wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen. Die verschiedenen Dienststellen auf kommunaler und nationaler Ebene schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu, die politische Opposition machte die Regierung mitverantwortlich. Und schlimmer noch: Bei den ersten Mahnwachen und Gedenkfeiern auf der Uferpromenade wurden arabisch aussehende Angehörige von Attentatsopfern rassistisch angepöbelt. Die Lokalpresse mahnte, ein Drittel der Opfer seien Muslime oder stammten aus muslimischen Ländern.

Das Ziel des IS ist es, die „ungläubigen“ westlichen Gesellschaften zu spalten

Das Attentat von Nizza war in doppelter Hinsicht eine Wende in der Konfrontation mit dem Terrorismus des IS. Neu war das Vorgehen mit einem Laster als Waffe für einen Massenmord. In gewissem Sinne stellte es auch einen nachträglichen „Erfolg“ des Attentäters dar, dass sich wegen der Polemik über die Prävention und Bekämpfung des Terrorismus solche Risse in der trauernden Nation bildeten. Auch herrscht seither die Befürchtung, dass das Attentat von Nizza, in Frankreich oder anderswo Nachahmung finden könnte. Die Parallelen zu den tragischen Ereignissen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt haben darum die Menschen in Frankreich schockiert, aber nicht völlig überrascht.

Das Attentat von Nizza gilt heute für den IS als Vorbild dafür, wie man am besten viele Menschen auf einmal umbringen kann. In der jüngsten Ausgabe des IS-Propagandamagazins Rumiyah mit dem Titel „Just Terror Tactics“ (Gerechte Terrormethoden) wird für ein vergleichbares Vorgehen geradezu geworben. Potenzielle Attentäter, die „hinter den Linien stationiert“ seien, finden hier zahlreiche Tipps, wie ihre mörderischen Pläne am leichtesten umzusetzen seien, um „Elend und Zerstörung über die Feinde Gottes“ zu bringen.

Es geht dabei um „weiche Ziele“, also im Gegensatz zu Regierungsgebäuden oder militärischen Einrichtungen. Im Einzelnen listet Rumiyah folgende Ziele auf: große Versammlungen unter freiem Himmel, Straßen voller Passanten, Märkte im Freien, Festivals, Paraden und politische Demonstrationen.

Als ideale Mordwerkzeuge werden Fahrzeuge und Messer empfohlen, da sie leicht zu beschaffen sind. Der IS präferiert jedoch Autos, da man mit einem Messer erwischt werden kann, während ein Auto keinerlei Verdacht erregt. Empfohlen werden schwere Lastwagen mit doppelten Reifen (damit man mehr Menschen überfahren kann), die schneller als 90 Kilometer fahren können.

Das politische Ziel des IS ist es, mit solchen Anschlägen die „ungläubigen“ westlichen Gesellschaften zu spalten, wie es nach dem Anschlag von Nizza ansatzweise geschah. Wenn Muslime unter Generalverdacht stehen, sich ungerecht behandelt fühlen und umgekehrt die Mehrheitsgesellschaft sie als „Problem“ oder „Bedrohung“ ansieht, so die Theorie, werden sie sich in Scharen den Dschihadisten anschließen.

In der jüngsten Ausgabe des IS-Propagandamagazins „Rumiyah“ finden potenzielle Attentäter zahlreiche Tipps, wie ihre mörderischen Pläne am leichtesten umzusetzen seien, um „Elend und Zerstörung über die Feinde Gottes“ zu bringen

Der IS hat wiederholt in seinen Propagandamedien dazu aufgerufen, mit einfachen Mitteln Anschläge im jeweiligen Land der „Ungläubigen“ durchzuführen. Seit der IS im Irak und in Syrien militärisch stark unter Druck steht und weite Teile seines Territoriums verloren hat, ist zu befürchten, das westeuropäische Staaten oder die USA verstärkt zum Schauplatz von Attentaten werden.

In Mossul, jener Stadt im Nordirak, in der der IS 2014 sein Kalifat ausrief, sieht er sich einer militärischen Koalition aus iranischer Armee, der US-Luftwaffe, schiitischen Milizen und kurdischen Kämpfern gegenüber. Und im benachbarten Syrien zieht sich langsam die Schlinge um Rakka zu, der Hauptstadt der Dschihadisten.

Doch eine Organisation wie der IS braucht mediale Aufmerksamkeit und Erfolge. Möglich, dass er diese nun anderswo sucht. Möglich, dass er demnächst in der syrischen Wüstenstadt Palmyra weitere antike Bauwerke zerstört. Auch das sorgt in der westlichen Presse für Schlagzeilen.