Autismus bei Kindern: Fehldiagnosen zuhauf

Zwei Drittel der Kinder, bei denen Autismus diagnostiziert ist, sind gar nicht autistisch. Das fanden Forscher in einer Studie heraus.

Holzspielzeug liegt auf einer Wiese

Der Verdacht auf Autismus wird häufig aufgrund falscher Annahmen über die Symptome geäußert Foto: marcoart/photocase

BERLIN taz | Viele der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die von Ärzten und Psychologen zu Autisten erklärt werden, haben dieses Störungsbild gar nicht. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler um den Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Christian Bachmann und den Versorgungsforscher Falk Hoffmann von der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, die Versichertendaten der AOK aus sieben Jahren ausgewertet haben.

Nur ein Drittel der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 24 Jahre, die im Jahr 2007 eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum bekommen haben, hatte die Diagnose im Jahr 2012 noch in der Krankenakte stehen. Die anderen hatten die zunächst als gesichert vermerkte Diagnose „Autismus“ irgendwann wieder ablegen müssen – und bis dahin wohl in vielen Fällen ungeeignete Therapien oder Medikamente bekommen.

Im internationalen Vergleich sei diese hohe Zahl an Fehldiagnosen verblüffend, bilanzieren die Autoren im Fachmagazin Autism, in dem die Studie jüngst veröffentlicht wurde. Bisherige Studien aus Industrieländern hatten ergeben, dass mindestens drei Viertel aller Autismus-Diagnosen über mehrere Jahre stabil blieben.

Ein anderes Ergebnis der Studie erstaunt hingegen weniger: Insgesamt ist die Zahl der Autismus-Diagnosen zwischen 2006 und 2012 in Deutschland angewachsen. Das Gesamtvorkommen unter den 0- bis 24-Jährigen stieg von 0,22 auf 0,38 Prozent. Dies liegt im internationalen Trend – und wird auch im Klinikalltag bestätigt. „Die Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie werden von potenziellen Autisten überlaufen“, sagt Studienautor Bachmann. „Autis­mus ist en vogue.“

Unterstützung für betroffene Kinder

Die Diagnose ist bei Eltern begehrt, weil autistische Kinder im Schulalltag wichtige Hilfen bekommen, etwa einen Lernbegleiter, der das Kind individuell unterstützt. Auch Frühförderung ist mit der Diagnose leicht zu erhalten: Das Kind wird von einer spezialisierten Stelle betreut, bekommt Logopädie oder Autismus-spezifische Verhaltenstherapien. Die Autoren mutmaßen, dass die Diagnose Autismus häufig vergeben wird, um benachteiligten Kindern derart intensive Hilfen zu ermöglichen – die sonst schwieriger zu bekommen sind.

Autismus sei zudem viel positiver besetzt als andere psychiatrische Störungsbilder, so Bachmann. Das liegt offenbar an den berühmten Fällen von Autisten mit Inselbegabung – wie von Dustin Hoffmann 1988 im Kinofilm „Rain Man“ dargestellt. Solche Betroffenen zeigen zwar Kontaktstörungen und andere typische Symptome des Autismus, haben aber etwa ein enormes Gedächtnis für Zahlen.

Generell gehört zu der Erkrankung ein weites Spektrum diagnostischer Untergruppen, weshalb man nicht mehr von Autismus, sondern von „Autismus-Spektrum-Störungen“ spricht. Dieses Spektrum beinhaltet etwa den frühkindlichen Autismus, eine tiefgreifende Entwicklungsstörung: Die betroffenen Kinder fallen schon vor dem Schulalter auf, sie zeigen stereotypes Verhalten. Manche fangen spät, andere nie an zu sprechen. Aber zum Spektrum zählen genauso Kinder mit einer eher milden Variante, dem Asperger-Syndrom. Betroffene haben ein geringes Einfühlungsvermögen, halten zwanghaft an Routinen fest. Sie sind aber in der Lage, eine normale Schule zu besuchen.

An diese Hoffnung klammern sich offenbar Eltern von Kindern, die eine auffällige Entwicklung zeigen. „Manche sagen sogar: Wenn ich bei Ihnen die Diagnose Autismus nicht bekomme, gehe ich woanders hin“, so Bachmann. In einer Autismus-Ambulanz, in der Bachmann tätig war, wurde ausgewertet, welche Diagnosen Kinder, die mit Autismusverdacht vorgestellt werden, wirklich haben. „Über den Daumen gepeilt ist ein Drittel wirklich autistisch, ein weiteres Drittel hat eine Intelligenzminderung.“ Das letzte Drittel leide in Wirklichkeit unter einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Falsche Annahmen

Ein Verdacht auf Autismus wird oft von Lehrern oder Erziehern erstmals geäußert – auch, weil sie falsche Annahmen über die Symptome hegen. „Es hält sich hartnäckig der Mythos, dass bei Autismus der Blickkontakt gestört ist“, sagt Bachmann. „Das kann zwar sein, es muss aber nicht vorkommen.“ Auch andere Auffälligkeiten im Sozialverhalten verleiten Erzieher dazu, den Eltern gegenüber Autismus zu erwähnen. „In Wirklichkeit ist das Kind aber vielleicht einfach nur schüchtern oder hat ADHS.“

Die Vermutungen führen dazu, dass Kinderärzte und Psychologen aufgesucht werden. „Die diagnostischen Goldstandards, also die etablierten Methoden zur Autismus-Diagnostik, werden aber längst nicht von allen Niedergelassenen eingesetzt, weil sie teuer und zeitaufwändig sind und man dafür Trainings absolvieren muss“, erklärt Bachmann. Das wichtigste Testsystem ADOS besteht aus Spielmaterialien, mit denen soziale Situationen durchgespielt werden. Es kommt vorwiegend in Praxen zum Einsatz, die auf Autismus spezialisiert sind.

Dass zwei Drittel der Autisten möglicherweise keine sind, sei durchaus besorgniserregend, so Bachmann. Es belaste das Gesundheitssystem, aber auch die betroffenen Kinder. „Die Therapie der eigentlichen Störung verschiebt sich um Jahre.“ Bachmanns Empfehlung ist, dass Eltern sich bei einem Verdacht auf Autismus gleich an auf Autismus-Diagnostik spezialisierte Zentren wenden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.