Kommentar Proteste in Rumänien: Der Frust ist explodiert

Hunderttausende Demonstranten drängen gegen die rumänische Regierung auf die Straße. Schuld ist das marode System.

Luftbild von tausenden Menschen, die vor dem Justizministerium in Bukarest, Rumänien, gegen die Regierung demonstrieren

Ritualisierte Schuldzuweisungen an die jeweilige Regierung – seit 27 Jahren Foto: dpa

Das Unbehagen der rumänischen Bevölkerung an der Politik der Regierenden erfasste in den letzten Tagen immer mehr Menschen, insbesondere die Jungen. 300.000 sollen es am Mittwochabend gewesen sein, die in mehreren Großstädten der Kälte stundenlang trotzten, um ihre angestaute Unzufriedenheit in emotionalen Sprechchören zum Ausdruck zu bringen.

Dabei waren die umstrittenen Verordnungen der sozialdemokratisch-liberalen Regierungskoalition eigentlich nur der Funke, der den Frust zur Explosion brachte. Perspektivlosigkeit, niedrige Gehälter, eine korrupte politische Klasse, ein bürokratisch aufgeblähter Staatsapparat und eine zynische Clique von oligarchisch agierenden Neureichen sind die wahren Triebfedern, die all die Leute auf die Straße drängen.

All das wird nicht nur von neoliberalen rumänischen Politikern, sondern auch in der Europäischen Union kleingeredet. Man blickt lieber auf die glänzenden Schaufenster in den großen Städten als hinter die Fassaden der Wohnsilos oder auf das Elend der Landbevölkerung, die zum Großteil auf Plumpsklos angewiesen ist und fließendes Wasser nur vom Hörensagen kennt.

Gewiss, die Korruptionsbekämpfung gilt als höchstes Gebot – aber die Ideale ändern sich je nach politischer Couleur. Hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Wer versteht noch eine Welt, in der die des Plagiats überführte Chefin der Antikorruptionsbehörde für unschuldig erklärt wird, der frühere sozialdemokratische Premier aber wegen des gleichen Vergehens auf seinen Doktortitel verzichtet?

Hunderttausende werden auch in den nächsten Tagen demonstrieren und sich an der Illusion festklammern, die derzeitige Regierung sei an ihrem Schicksal schuld. Diese schon fast ritualisierten Schuldzuweisungen an die jeweils amtierenden Verwalter eines unsozialen und maroden Systems prägten die letzten 27 postkommunistischen Jahre in Rumänien. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

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William Totok, geb. in Groß-Komlosch (Rumänien); Studium der Germanistik und Rumänistik in Temeswar; Gründungsmitglied der „Aktionsgruppe Banat“ (1972–1975); politische Haft wegen „Verbreitung staatsfeindlicher Gedichte“ (1975–1976); lebt seit 1987 als freischaffender Schriftsteller und Publizist in Berlin und schreibt u.a. für die taz. Letzte Veröffentlichungen: „Zwischen Mythos und Verharmlosung. Über die kritische Vergangenheitsbewältigung, Ion Gavrilă Ogoranu und den bewaffneten, antikommunistischen Widerstand in Rumänien“, (Iaşi 2016, zusammen mit Elena-Irina Macovei), „... an den Fahnenstangen fault die Wut. Gedichte, (Ludwigsburg 2016).

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