Milo Rau am Schauspielhaus Zürich: Freundliche Grausamkeit

In Milo Raus Züricher Inszenierung von „Die 120 Tage von Sodom“ wird die Vernichtung von Leben zu einem Echo von etwas, das jetzt passiert.

Eine Gruppe von Menschen, die hinter einem Tisch mit Speisen steht oder sitzt

Zwischen abgeschnittenen Fingern und Zungen das Authentische suchen Foto: Schauspielhaus Zürich

Das Licht der Kerzen ist warm und sanft. Es bringt die Gesichter zum Leuchten, während der Kelch mit dem Wein weitergereicht wird. Wie die Kamera den Schauspielern in dieser Abendmahlsszene dabei naherückt und einen nach dem anderen groß auf der Leinwand über der Bühne zeigt, erzeugt, noch dazu mit Musik von Bach, einen feierlichen und malerischen Eindruck. Man denkt an alte flämische Maler, die bäuerlichen Gesichter von Breughel. Man ist gepackt von einem Moment von Schönheit, der der Sehnsucht nach Archaik und Einfachheit entgegenkommt.

Dabei weiß und sieht man noch vieles andere zugleich in dieser zweiten Szene von Milo Raus Inszenierung „Die 120 Tage von Sodom“ nach Pasolinis Film, uraufgeführt im Schiffbau Zürich. Dies sind keine einfachen und archaischen Menschen, sondern Schauspieler mit einer geistigen Behinderung des Züricher Theaters Hora. Sie haben gerade die Rollen der jungen Leute zugeteilt bekommen, die in den „120 Tagen von Sodom“ von einer Reihe Adliger erniedrigt, gefoltert und ermordet werden.

Das ist als Ansage der Abendmahlsszene vorausgegangen durch den Schauspieler Robert Hungerbühler, der mit drei anderen Ensemblemitgliedern des Schauspielhaus Zürich die Rolle der Adligen zugeteilt bekommt. Hungerbühler hat den Abend eröffnet mit einer Erzählung darüber, wie er Pasolinis Film als junger Mann gesehen hat, verliebt und in Paris, und wie schrecklich, unverständlich und in keinerlei Hinsicht passend zu seinen damaligen Bedürfnissen der Film war.

Nein, man rechnet nicht mit dieser Langsamkeit, der Behutsamkeit der Erzählweisen, dem Distanzhalten gegenüber dem Grausamen, wenn die „120 Tage von Sodom“ auf dem Programmzettel stehen. Die sind, rekurrierend auf einen Text voll ausschweifender, sexueller und perverser Phantasien von Marquis de Sade, ein schwarzer Block in der Geschichte der Avantgarden, der Befreiung durch Libertinage, der Überschreitung von Regeln, um ihr Gemachtsein von einer anderen Seite befragen zu können.

Mussolinis letzten Tage

In dieser Geschichte besetzt Pasolinis letzter Film „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ eine wichtige Position, nicht zuletzt auch deshalb, weil er, wie wir auch in einem Doku-Block des Theaterabends erfahren, den Stoff mit dem italienischen Faschismus und Mussolinis letzten Tagen in dem Alpenort Salo verschraubt hat.

Doch die Inszenierung von Milo Rau reiht sich eben nicht ein in die Suche nach dem Tabu-Bruch, in das Überschreiten von Schmerzgrenzen, sondern sie unterläuft sie. Es ist vor allem das Hora-Ensemble und sein Interesse am Theaterspiel, das sich den Erwartungen an Spektakel und Skandal entzieht.

Die grausame Vernichtung von Leben in den „120 Tagen“ wird zu einem Echo von etwas, das auch jetzt passiert

Die Inszenierung bricht der Suche nach Erregung immer wieder die Spitze, indem sie einerseits sachlich auf deren Sprache schaut und sich andererseits viel Zeit des Zuschauens nimmt, wenn etwa Fabienne Villiger und Gianni Blumer vom Hora-Ensemble ein Liebespaar spielen, eine berührende und intime Szene, verwirrend in ihrer Gleichzeitigkeit von Echtheit und Gemachtheit.

Doch natürlich sind auch diese sanften Bilder trügerisch. Eine Angst spielt immer mit, dass die Schaupieler vom Schauspielhaus, die alle mindestens einen Kopf größer als die Hora-Spieler sind und bedrohlich wirken, wenn sie sich über die kleinen Leute beugen, sie gleich, in ihren Rollen als die perversen Adligen und Faschisten, in etwas anderes hinein dirigieren werden. Was auch geschieht, Kapitel für Kapitel. So entstehen beklemmende Bilder von Verfügungsgewalt.

Die Grausamkeit kommt hier teils freundlich daher, zum Beispiel in Gesprächen zwischen den Ensembles über das Leben, die Liebe, den Beruf, die Behinderung. Das Gemeine tappt auf leisen Pfoten, in Sätzen wie „Du siehst gar nicht behindert aus, bist ein hübsches Mädel“.

Mehr und mehr entsteht aus solchen Kleinigkeiten ein Bild davon, wie der Einschränkung durch eine geistige Behinderung, Trisomie 21 oder Lernschwäche, ein zweiter eingrenzender Rahmen durch die Erwartungshaltung der anderen übergestülpt wird. Nicht nur auf der Bühne hat alles eine Doppelgestalt, wahr und gemacht zugleich, sondern auch im Leben außerhalb des Theaters.

Kindermörder Dutroux

Damit hat Milo Rau auch schon in dem Stück „Five Easy Pieces“ gearbeitet, mit dem er gerade zum Theatertreffen im Mai nach Berlin eingeladen wurde. Dort war es ein Ensemble von Kindern, vom Campo-Theater in Gent, mit denen er über den Kindermörder Dutroux und die Erwartungen an dessen Geschichte erzählte. Zu beiden Stücken ist im Verbrecher Verlag ein Buch erschienen, in dem Milo Rau über seine Interessen an den Stoffen und seine Konzepte schreibt.

Wie er überhaupt seine Inszenierungen, oft noch vor der Premiere, in eine große Theoriebildung einbettet, als müsste er einen Schutz- und Verständnisrahmen um seine Stücke bauen. Manchmal erzeugt gerade das die Sorge, die Sache könnte sehr kompliziert werden. Aber im Theater selbst geschieht dann etwas Neues.

Seine Ästethik zeichnet sich durch formal gut durchdachte Strukturen aus. Er bedient sich vieler Rahmungen und Ebenen der Erzählung, die er aus leicht zugänglichen Elementen zusammensetzt, den Geist damit aber fordert, sich immer wieder in einen andere Blickwinkel zu begeben. So schließt er Inhalte und Themen auf.

Dem Schauspieler Michael Neuenschwander kommt diesmal die Rolle zu, mit einer Erzählung, vorgetragen im Duktus eines schmerzhaften, biografischen Geständnisses, den Bogen zu schlagen zwischen dem faschistischen Mord an Behinderten und der Gegenwart. Man leidet mit ihm mit, wenn er sich erinnert, wie seine schwangere Freundin erfuhr, dass ihr Kind Trisomie 21 haben wird und alle ihr zur Abtreibung rieten. Neun von zehn als behindert diagnostizierten Föten würden heute gar nicht mehr zur Welt gebracht, referiert er.

Praktiken der Kontrolle

Das gefeierte Theater Hora ist das Reservat, das sich diese auf ihre Inklusions-Ansprüche stolze Gesellschaft leistet, während sie andererseits dafür Sorge trägt, dass Behinderung ein Auslaufmodell ist. Und plötzlich wird die grausame Vernichtung von Leben in den „120 Tagen“ zu einem Echo von etwas, das auch jetzt passiert, aber unter dem Vorzeichen von medizinischem Fortschritt und Praktiken der Kontrolle. Das sei einer der „Grundwidersprüche der Zeit“ sagt Milo Rau im Begleitbuch.

Es ist natürlich auch ein Abend über Pasolini, seiner Verklärung des Archaischen, seiner Suche nach Einfachheit und Authentizität. Diese Sehnsucht mag geblieben sein, aber sie wird auf der Bühne im Schiffbau eingetaucht in die Erkenntnis, dass auch das vermeintlich Authentische immer ein Gemachtes ist, ein Bild des Wünschenden.

Das wird in einer langen, liebevollen Begegnung zwischen Gianni Blumer und Robert Hunger-Bühler durchgespielt, über die sich verschiedene Erzählungen von Pasolinis Suche nach Liebhabern und seiner Ermordung legen. Das Bild, was wir sehen, wechselt dabei mehrfach die Bedeutung.

Was passiert, wenn man all diese Metaebenen streicht, kann man in der Inszenierung dann doch noch am Ende erleben, wenn die Hora-Spieler zum Erbarmen echt das Leiden der Gefolterten spielen. Und obwohl man deutlich gezeigt bekommt, dass die abgeschnittenen Finger und Zungen gefaked sind, sind die Bilder zu schrecklich, um hinzuschauen. Da holt einen bei aller Leichtigkeit der Inszenierung am Ende doch ein Schock ein, den man bis dahin gnädig von sich fernhalten durfte.

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