Essay über die Schwäche der Demokratie: Die Schuld der liberalen Eliten

Neoliberalismus führt zur Entsolidarisierung. Das gilt für Menschen, die sich Rechtspopulisten zuwenden – genauso aber auch für Liberale.

Pegida-Demo in Dresden: Gegen die Elite, gegen Merkel Foto: dpa

Nehmen wir mal an, die westlichen Demokratien lebten in einem gemeinsamen Haus: Dann gilt spätestens seit der Wahl Donald Trumps: Der Dachstuhl hat Feuer gefangen, im Keller steht das Wasser – und in der Hofeinfahrt stehen Abrisskräne. Als letztere können rechtspopulistische Bewegungen und Parteien gelten, die sich zunehmend und gleichzeitig darin gefallen, autoritäre Herrschaftsformen zu bevorzugen und die liberale Demokratie offen als Fehlentwicklung zu bezeichnen. Dies ist übrigens in nahezu allen westlichen Gesellschaften so. Dass sie sich gleichsam parallel in einem Krisenmodus befinden, ist sicherlich kein Zufall. Es muss also vergleichbare Entwicklungen geben.

Gesucht werden lange Linien der Veränderung, die sich in allen Gesellschaften des Westens zugleich nachweisen lassen. Diese werden hier in der doppelten Liberalisierung gesehen – in einer spezifisch wirtschaftlichen und einer spezifisch soziokulturellen. In der Verwobenheit dieser beiden Liberalisierungen lässt sich für die ubiquitäre Demokratiekrise des Westens ein Erklärungsmuster finden, das – kurz gesagt – darin besteht, dass der falsche liberale Esel geschlagen und auf das falsche, nämlich das autokratische Pferd, gesetzt wird.

Die ökonomische Liberalisierung, um mit ihr zu beginnen, hat im Westen in den letzten Jahrzehnten der Globalisierung eine neoliberale Form angenommen. Unter der generellen Prämisse, dass marktwirtschaftliche Antworten immer besser seien als politische und der Staat dem Markt prinzipiell unterlegen sei, lässt sich für die letzten Jahrzehnte ein Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen beobachten. Im Einzelnen gehören dazu unter anderem: Deregulierungen, Privatisierungen, der Rückbau des Sozialstaats und die Zuweisung der Verantwortlichkeit für die ökonomische Absicherung an das Individuum. Dazu kommt eine Steuerpolitik, die die Abgaben der am besten Verdienenden absenkt. Und die im Ergebnis eine immense Verschärfung der ungleichen Vermögensverteilung bewirkt.

Welche Wirkungen ergeben sich aus dem neoliberalen Ansatz für die Gesellschaften des Westens? Ein zentraler Effekt ist der sich ständig erhöhende Druck, der auf allen Protagonisten der westlichen Gesellschaften lastet. Es sind nicht nur die Marginalisierten – wie etwa Geringverdiener, Arbeitslose oder Hartz-IV-Empfänger –, die darüber in einen gleichsam darwinistischen Überlebenskampf um das Bestehen in Konsumgesellschaften gepresst werden.

Dauernde Anspannung

Betroffen ist auch die untere Mittelschicht. Sie sieht sich einer ständigen Konkurrenz von unten gegenüber. Das führt zu einem Leben in steter Abstiegsangst. Die scheinbar abgesicherte gehobene Mittelschicht, gut gebildet und gut verdienend, die von den Steuersenkungen für Besserverdienende immer Vorteile ziehen konnte, wird davon ebenso belastet. Auch sie wird über das neoliberale Paradigma, der Markt sei auch in Zeiten der Globalisierung an Effizienz unschlagbar, ständig dazu gezwungen, sich um ihre Arbeitsplätze zu sorgen. Das bedeutet: Deren Arbeit steht unter dauernder Anspannung, den Anforderungen des Marktes gerecht zu werden. Sie muss also so verrichtet werden, dass sie weder wegrationalisiert noch in andere Volkswirtschaften verlagert wird.

Im Ergebnis heißt dies, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften nahezu allesamt in Bedrängnis geraten sind. Die neoliberalen Kompressionen wirken in alle Gesellschaftsbereiche – nicht nur auf die privatwirtschaftlichen. Beispiel Lehrende: Ihre Schülerschaft sollen sie bei den nächsten Pisa-Tests möglichst weit nach oben hieven. Der Druck ist deshalb enorm hoch. So sehr, dass man fast meinen könne, es handle sich um eine Überlebensfrage. Wenn nicht um eine der gesamten Menschheit, so doch um eine der eigenen Gesellschaft.

Welche Folgen ergeben sich nun daraus, dass die westlichen Gesellschaften sich zu Gesellschaften der Bedrängten entwickelt haben? Es gilt die Annahme: Menschen, die in Bedrängnis sind, wollen sich daraus befreien. Sie suchen nach Erklärungen für die Ursachen ihrer Bedrängnis und nach Lösungen, wie sie ihre Situation verbessern können. Naheliegend wäre die Suche nach den Wurzeln ihrer sie bedrückenden Situation im ökonomischen Bereich. Doch der Fall liegt anders, ebenso die Lösung. Sie besteht darin, Gründe für die Belastungen in der gesellschaftlichen Liberalisierung zu suchen. Und genau danach greift ein immer größer werdender Teil dieser in in Bedrängnis Geratenen.

Zweifelsohne hat sich in den Gesellschaften des Westens in den letzten Jahrzehnten eine weitere Liberalisierung (neben der ökonomischen) vollzogen: die soziokulturelle Modernisierung. Diese kann in vielerlei Hinsicht als fortschreitender Emanzipationsprozess bezeichnet werden. Drei Beispiele: Zum einen ist die Partizipationschance von Frauen gestiegen, zum anderen lässt sich eine gewachsene Akzeptanz von vielfältigen sexuellen Lebensformen beobachten. Schließlich hat sich das Bewusstsein verbreitet, dass dauerhafte Einwanderung keine Ausnahme, sondern Normalität ist und dass ethnische Zuschreibungen nicht zu Diskriminierungen führen dürfen. Natürlich ist keine der drei Entwicklungen in den jeweiligen westlichen Gesellschaften mit derselben Geschwindigkeit vorangekommen. Es gab stetige Rückschläge und keine dieser drei exemplarischen „Erfolgsgeschichten“ ist zu Ende erzählt. In zunehmendem Maße haben sie jedoch die westlichen Gesellschaften durchdrungen.

Komplexe ökonomische Dynamiken

Gegen diese gesellschaftliche Liberalisierung hat sich in den letzten Jahren aber ein massiver – von Rechtspopulisten verstärkter – Widerstand aufgebaut, der bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Das geht von den Demonstrationen Zehntausender in Paris aus, die gegen eine „mariage pour tous“ und gegen „Gender-Theorien“ sind. „Gegen alles Bunte“ wenden sich Deutschlands Pegida-Anhänger auf ihren Märschen. Und auf einem AfD-Parteitag formulierte der Bundessprecher Jörg Meuthen folgenden Satz: „Wir wollen weg vom linken, rot-grün verseuchten, leicht versifften 68er Deutschland“. Die Mitglieder johlten, sie wollen die in den sechziger Jahren begonnenen soziokulturellen Modernisierungen am besten ausradiert sehen. Oder wenigstens so weit wie möglich rückgängig machen. Mehr Beifall gab es für Meuthen, nebenbei erwähnt, an keiner anderen Stelle dieser Rede.

Wie aber lässt sich verstehen, dass sich der Unmut eines Teils der Bedrängten anti-emanzipatorischen Strömungen zuwendet? Oder Strömungen umschwärmt, die gegen die soziokulturelle Modernisierung sind? Wäre es nicht naheliegender, sich vorrangig mit der wirtschaftlichen Liberalisierung eben dieser Gesellschaften zu beschäftigen? Eine Erklärung ist, dass der Druck unter den diese Gesellschaften geraten sind, in seiner Entstehung, in seinen Wirkungen und in seiner Urheberschaft nur sehr schwer von breiten Gesellschaftsschichten durchschaut werden kann.

Die Komplexität ökonomischer Dynamiken des von der Politik als alternativlos dargestellten Neoliberalismus gilt in Zeiten zunehmender Globalisierung den allermeisten Menschen als intransparent. Die Menschen sehen zwar, wie schnell sich ihre Lebenswelten ganz real verändern, aber die Ursache-Folge-Ketten bleiben ihnen oft verborgen. Aus dieser Ungreifbar- und Unbegreiflichkeit entsteht ein Bedürfnis nach leicht nachvollziehbaren Erklärungen: Wer ist verantwortlich für die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Mexiko, nach Rumänien oder nach Indien? Wer muss dafür haften, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinandergeht? Wer sorgt dafür, dass der Druck, der auf immer mehr Arbeitnehmern in den westlichen Gesellschaften lastet, so gewaltig angestiegen ist? Man bräuchte dafür eine kritisch-aufgeklärte Analysefähigkeit und sozioökonomische Urteilskompetenz. Beides ist in unseren demokratischen Gesellschaften nach wie vor stark unterentwickelt.

Statt nun nach Erklärungen im ökonomischen Bereich zu suchen, greift also ein Teil derjenigen, die sich von der Neoliberalisierungs- und Globalisierungsdynamik bedrängt sehen, zu einem einfachen Antwortmuster. Sie nehmen wahr, dass sich die „gute, alte Zeit“, in der sie sich noch in privilegierter Position sahen, in gesellschaftlicher Hinsicht verändert hat: Die Frauenquoten in Firmen, die gleichgeschlechtliche Ehe oder Staatsbürgerrechte für Menschen mit Migrationshintergrund sind Konkretisierungen der gesellschaftlichen Liberalisierungsprozesse. Diese Entwicklungen sind nahe und sie erscheinen zugleich greifbar. Sie für die erlebte Bedrängnis verantwortlich zu machen, bietet sich als eine simple und verführerische Erklärung an, egal wie absurd sie sein mag.

Einheimische Privilegisierungsphantasien

Die zentrale Schuld für ihre Misere auf Einwanderer und Geflüchtete zu schieben, die einem die Arbeitsplätze und die bezahlbaren Wohnungen wegnähmen, erscheint ihnen im selben Maße einleuchtend. Genauso wie die Behauptung, dass der Kampf gegen Diskriminierung von Frauen oder die Akzeptanz sexueller Vielfalt das „gute Alte und Bekannte“ zerstört hat. Egal wie aberwitzig die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen ihrer Bedrängnis und der soziokulturellen Modernisierung auch sein mag, so nachhaltig ist die entfremdende Wirkung, die sich daraus für sie ergibt: Dieses Gefühl, zu Strangers in Their Own Land, wie es Arlie Hochschild unlängst formuliert hat, geworden zu sein, deren Vorstellungen von dem, was sie für „normal“ halten, immer stärker in die Defensive geraten ist, hat sich verbreitet und wird von rechtspopulistischen Strömungen aufgegriffen.

Ihr Normalitätsverständnis enthält neben der männlichen Vorrangstellung und der Privilegierung von Heterosexualität noch das Selbstverständnis, dass man als Staatsangehöriger, der „keine“ oder eine lange zurückliegende Zuwanderungsgeschichte hat, bei Verteilungskämpfen automatisch privilegiert werden sollte. So ist es beispielsweise in der bundesrepublikanischen Gesellschaft immer noch so, dass ein Arbeitssuchender mit einem deutsch klingenden Namen deutlich weniger Bewerbungen schreiben muss als ein gleich qualifizierter Mitbewerber, dessen Name türkisch klingt, um überhaupt eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten. Diese anwachsenden Privilegisierungsphantasien von „Einheimischen“ sind in allen westlichen Gesellschaften festzustellen.

In gewisser Weise wird hier der alte Spruch von Brecht, das Fressen komme vor der Moral, wieder wahr: Der nur „Einheimischen“ zustehende Kuchen wird als gefährdet begriffen und geteilt wird er, wenn überhaupt, bestenfalls mit dem Inner Circle derjenigen, die ebenfalls als berechtigt wahrgenommen werden. Und das sind definitiv nicht die „Dazugekommenen“. Der Verlust von Vorrechten wird als illegitim wahrgenommen. „America first“ ist insofern zu deuten als Vorfahrt für die weiße Bevölkerung. Als Resultat findet man eine wachsende Nostalgie nach einer besseren Zeit: „Make America great again!“ ist der exemplarische Schlachtruf, unter dem sich die Rechtspopulisten dieser Tage versammeln, man muss nur „America“ durch das jeweilige Land ersetzen. Diese wehmütige Rückwärtsgewandtheit nach einer vergangenen, aber vermeintlich wiederholbaren Zeit, einem Again, in der die Dinge angeblich noch in Ordnung waren, in der Homophobie noch als Selbstverständlichkeit galt, in der Frauen noch für Haus und Familie zuständig waren und Migranten bestenfalls als Gäste tituliert wurden, ist auf dem Vormarsch.

Dieses eingangs so genannte Schlagen des falschen liberalen Esels, das die gesellschaftliche Liberalisierung gleichsam als Sündenbock missbraucht, lässt sich allerdings nicht hinreichend über die mangelnde Analysefähigkeit (der wirtschaftlichen Liberalisierung) von breiten Bevölkerungsschichten erklären.

Moralische Hochnäsigkeit

Ein weiteres erklärendes Momentum scheinen viel eher die zahlreichen Kränkungen zu sein, die die doppelte Liberalisierung breiten Bevölkerungsgruppen in allen westlichen Gesellschaften zugefügt hat. Nicht nur sind viele in Bedrängnis geraten, nicht nur wird es immer schwieriger für sie, den Wohlstand durch eigene „harte und ehrliche“ Arbeit zu erhalten, sondern zugleich sehen diese Entfremdeten, dass die Gewinner der ökonomischen Liberalisierung, ein Großteil der sogenannten Besserverdiener, in aller Regel auch die Taktgeber für die soziokulturelle Liberalisierung sind. Diese „Doppelpack-Gewinner“ haben es durch ihre Führungspositionen geschafft, dass die meisten Medien, nahezu alle politischen Parteien, selbst Institutionen wie das Militär ein liberales, sich der soziokulturellen Modernisierung verpflichtetes Image hochhalten, so dass es auf den ersten Blick eigentlich nur verwundern kann, wie Illiberalität auch nur den Hauch einer Chance in den westlichen Gesellschaften bekommen konnte.

Warum diese hier so genannte liberale Elite trotz anhaltender ökonomischer Neoliberalisierung, die auch für sie eine Bedrängnis darstellt, eine emanzipationsfördernde und progressive Haltung einnimmt und bewahren kann, ist schwer zu beantworten. Eventuell zeigen sich an dieser Stelle schon die Früchte einer jahrzehntelangen Aufklärung durch Bildungsprozesse.

Diese hegemoniale Position wird jedoch in einer arroganten Weise vertreten. Verbunden mit der Siegerpose dieser hauptsächlich urbanen Führungsschicht ist eine moralische Hochnäsigkeit gegenüber denjenigen, die sich als Missachtete wahrnehmen. Sie werden als Hinterwäldler verspottet, von Hillary Clinton etwa als deplorables – zu deutsch: Jämmerliche – verhöhnt.

Die liberale Dominanz ertrugen die deplorables bisher bestenfalls zähneknirschend. Immer weniger ertragen sie, dass aus dieser Überlegenheit Überheblichkeit wurde und dass sie zunehmend dünkelhaft daherkommt. Weil zudem die Vorstellung der „Hinterherhinkenden“ vom guten Leben, die oftmals eine kleinbürgerliche Ordnung vorsieht, gleichsam von oben herab bespuckt wird, ist in ihren Augen eine unverzeihliche Grenzverletzung: Genug ist genug! Es ist also gerade der auf dem hohem Ross vollzogene Siegeszug der soziokulturellen Liberalisierung, der unter neoliberalen Rahmenbedingungen die rechtspopulistischen Bewegungen erst aufblühen lässt.

Und in dieser schon jahrzehntelang anhaltenden Situation, die sich nur in eine Richtung, nämlich zugunsten der liberalen Aristokratie verändert hat, erkennen die vermeintlich Gedemütigten nun zum ersten Mal eine Chance, es den verhassten liberalen Eliten, deren ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital stetig gewachsen ist, zu zeigen. Als Reaktion auf diesen liberalen Snobismus hat sich viel Wut und Hass aufgestaut: Dass ihre Bedrängnis auch noch als kulturelle Rückständigkeit gewertet wird, ist für sie eine solche Schmähung, dass sie bereit sind, Wahlentscheidungen zu treffen, die als Akte des Aufbegehrens deutbar sind und von denen viele von ihnen ahnen, dass sie niemals zu ihren Gunsten wirken werden.

Aus ihrer Sicht stehen die Dinge wie folgt: Wenn ich einen Ziegelstein durch die Wohnzimmerscheibe der „wohlsituierten liberalen Mitte“, wie sie von Zeit-Chefredakteur Giovanni Di Lorenzo genannt wird, werfen kann, dann werfe ich ihn eben. Und wenn der einzige Ziegelstein, den ich zur Hand habe, ein womöglich psychopathischer Milliardär ist (oder der Ausstieg aus der EU), dann nehme ich ihn halt trotzdem. Punkt. Rationale Kosten-Nutzen-Abwägungen sind bei solchen höchst affektiven Entscheidungen weitgehend außer Kraft gesetzt. Der Verstand, der besagt, dass ein womöglich psychopathischer Krösus nicht unbedingt die beste Hilfe für die „Missachteten“ des Mittleren Westens ist, wird ignoriert. Denn im Moment des Steinwurfs verschafft die Aktion den deplorables eine immense Entlastung, verknüpft mit der Hoffnung, dass das Klirren der Scheiben bei den Erschrockenen eine andere Haltung hervorruft. Nämlich, dass die Abgehängten wieder ernster genommen werden und vielleicht sogar etwas „rausbekommen“.

Ein angeschwollenes Rachebedürfnis

Was sind die Folgen? Sehr wahrscheinlich tritt das genaue Gegenteil ein, vertiefen sich die Gräben, nimmt die Abschottung zu. Die Steinewerfer verspüren dies eher, als dass sie es klar erkennen können. Und dass ein Teil dieser Bedrängten des Neoliberalismus damit einer Autokratie den Boden bereitet, finden sie nicht ganz so schlimm. Wesentlich dominanter ist das angeschwollene Rachebedürfnis. Die Bereitschaft, sich selbst Schaden zuzufügen und selbstzerstörerische Wirkungen in Kauf zu nehmen, ist daher groß.

Aus der empfundenen Position der Schwäche heraus bieten die Rechtspopulisten nun den einzigen Fluchtpunkt, um es den sogenannten Gutmenschen zu zeigen. Denn die deplorables finden, dass sich das Pendel wieder in ihre Richtung neigen sollte – und das unter expliziter Inkaufnahme von Illiberalität. Die Wut, die sich an den Geflüchteten und Zuwanderern als den Fremden von außen entzündet hat, kann sich nun gegen diese liberalen Fremden von innen richten. Nur durch diese Gegenwehr glauben sie, sich im eigenen Land wieder heimisch fühlen zu können.

Der liberale Staat, dessen Aufgabe es eigentlich ist, gesellschaftliche Liberalisierung bürgerrechtlich abzusichern und ökonomische Liberalisierung sozial einzuhegen, gilt den Wütenden und Enttäuschten dabei nicht als Verbündeter, sondern als ein schwacher Staat, der ihnen abweisend gegenübersteht. Warum sollten sie in einer solchen Situation etablierte Parteien wählen, die ihrer Überzeugung nach keine Vorteile für sie bringen? Ihrer Ansicht nach ist es gerade der liberale Staat, der zu wenig getan hat, um ihrem Bedürfnis und ihrer Forderung nach vorrangiger Privilegierung gerecht zu werden. In dieser Situation ist dann eine relativ hohe Zahl an Geflüchteten oder an illegalen Einwanderern nicht die Ursache für ihre Entscheidung, rechtspopulistische Parteien und Führertypen zu unterstützen, sondern nur der Auslöser.

Aus dieser Schwäche der liberalen Gesellschaft und des liberalen Staates erwächst bei denen, die „im Schatten stehen“, der Wunsch nach einem autoritären Staat; möge doch dieser zu ihren Gunsten eingreifen. Dieser Wunsch lässt sich nachvollziehen, gerade weil diese, sich der Gegenaufklärung zugewandten Bedrängten, ihre Position als eine Position der Schwäche verstehen. Umso mehr suchen sie deshalb nach einer starken Hand, die nach Möglichkeit die soziokulturelle und zugleich die ökonomische Liberalisierung stoppen soll. Die Wette auf den starken Staat und auf den autoritären Führer, der par ordre du mufti die neoliberalisierte Globalisierung stoppen möge, indem er etwa Konzerne dazu „verdonnert“, Arbeitsplätze nicht auszulagern, mag zwar naiv sein, erscheint ihnen aber als einziger Ausweg.

Der starke Mann soll die Marktkräfte bändigen

Es ist das Prinzip Hoffnung. Eine mächtige, ordnende Hand soll schützend agieren, die alten Verhältnisse wieder herstellen. Es ist gleichsam der Wunsch nach einem Deus ex Machina. Dass diese Hand mit einem harten Besen ausgestattet ist und demokratische Werte hinwegfegen kann, ist den Befürwortern (die hoffen, es mögen kleine Wunder geschehen) keine vertiefte Betrachtung wert.

Durch ihr Setzen auf das falsche Pferd – das des illiberalen Autoritarismus (indem es der durchgreifende autoritäre Staat richten soll) – goutieren sie also zwei Dinge: Erstens eine Zurückweisung der gesellschaftlichen Liberalisierung. Und zweitens auch eine durchaus neoliberal-kritische Stoßrichtung: Der autoritäre „starke Mann“ soll auch die Marktkräfte bändigen. In gewisser Weise lässt sich Rechtspopulismus daher als eine Revolte gegen den Neoliberalismus deuten. Ob eine Politik allerdings, die Protektionismus, Strafzölle, Grenzwälle und Abschottung gegenüber Einwanderung mit Steuersenkungen und Deregulierungen verbindet, als anti-neoliberal gelten kann, ist eine andere Frage. Meiner Ansicht nach ist sie klar zu verneinen.

Der Versuch des Rückzugs jedenfalls in ein „Heartland“, so Paul Taggart, das mit rigiden Maßnahmen gegen alle Stürme der Globalisierung geschützt werden soll, ist aus Sicht vieler Bedrängter eine gute Lösung. Zumal eine bessere als sie die repräsentativen und liberalen Demokratien in den letzten Jahrzehnten geliefert haben.

Insofern ist das Modell Putin – das als autokratisches Muster sich auch in den Demokratien des Westens allmählich zu universalisieren scheint – als das Versagen der Verteidiger liberaler Ordnungen zu deuten: Die Verteidiger der liberalen Ordnungen waren nicht in der Lage, in all den Jahrzehnten den Siegeszug des ungezügelten Neoliberalismus einzuhegen und zeitgleich solidarischere Gegenmodelle zu etablieren. Dass autokratische Herrschaftsformen oder zumindest eine Re-Ethnisierung der Demokratie gerade Konjunktur haben, zeigt zudem, wie wenig die Idee der liberalen Demokratie verwurzelt ist.

Wohlstandschauvinismus der liberalen Elite

Warum aber erkannte dies die liberale Elite nicht und reagierte entsprechend? Die Gründe sind vielfältig. So ist sie als Mitbedrängte selbst dem unaufhörlichen Druck des Neoliberalismus ausgesetzt. Dieser führt oft dazu, dass die Fähigkeit dieser Elite, nämlich für einen gesellschaftlichen Ausgleich und gerechtere Verhältnisse zu sorgen, nicht gewachsen, sondern eher verkümmert ist. Bei allem zivilgesellschaftlich beachtlichem Engagement, etwa in der Flüchtlingsarbeit, ist eine selbstbezogene Haltung vieler Liberaler zu diagnostizieren.

Die Bereitschaft, sich für politisch wirksame Maßnahmen einzusetzen, die die Repressionen durch den Neoliberalismus reduzieren, zugleich aber den eigenen Status gefährden, ist sehr gering. Die „Furcht vor Statusverlusten“, wie sie Jürgen Habermas bei den Anhängern der Rechtspopulisten findet und die er als „Regressionsphänomene“ tituliert, finden sich daher auch bei den aufgeklärten Liberalen.

Die stressproduzierende Verdichtung der Neoliberalisierung führt also nicht nur bei denjenigen, die sich den Rechtspopulisten zuwenden, zu einer Entsolidarisierung, sondern auch bei den liberalen Eliten. Das neoliberale Diktum, alles sei einer nüchternen Nutzenmaximierung zu unterwerfen und der homo oeconomicus stelle das zentrale Leitbild dar, hat gerade bei ihnen einen Wohlstandschauvinismus erzeugt, der vorrangig die Absicherung der eigenen Prosperität anspricht. Die Ellbogengesellschaft ist erkennbar auch ins liberale Milieu vorgedrungen. Oder, um Fassbinders Filmtitel umzuformulieren: Es gilt nicht nur, Angst essen Seele auf, sondern auch: Druck essen Solidarität auf. Und dies in allen Lagern.

In dieser demokratiegefährdenden Situation helfen wohl nur politischen Strategien, die tatsächlich gesellschaftliche Gegenmodelle zur neoliberalen Globalisierung durchzusetzen – und zugleich die liberalen Demokratien erhalten. Kurzum: Den richtigen Esel zu schlagen und aufs richtige Pferd zu setzen. Wie aber sollen diese Gegenmodelle aussehen? Wer kann diese in bedrängten Zeiten vorantreiben? Haben wir die Kraft dazu? Und reicht uns die Zeit dafür überhaupt noch aus?

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Der Autor, 55, lehrt als Akademischer Oberrat Politikwissenschaft und -didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er studierte Soziologie und Politik an der FU Berlin und der New School for Social Research in New York.

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