Nagen an den Knochen

Bühne Wovor wir uns fürchten, das scheint immer schon eingetreten: „Ödipus und Antigone“ unter der Regie von Ersan Mondtag am Berliner Gorki Theater

Der Anfang ist vielversprechend. Schlagfertig, mehrsprachig, politisch, verwirrend: Da stehen in der Inszenierung von „Ödipus und Antigone“ am Maxim Gorki Theater in Berlin Orit Nahimas und Yousef Sweid auf der Bühne und streiten sich, wer Eteokles und wer Polyneikes spielen darf. Sie verdoppeln dabei nicht nur den Streit der Brüder, die als Söhne von Ödipus abwechselnd die Stadt Theben regieren sollten, aber jeweils die Alleinherrschaft anstreben, sondern spiegeln darin gleich mehrfach aktuelle Konflikte, etwa zwischen Israelis und Palästinensern, oder Konkurrenzen zwischen Migranten in Deutschland. Viele Erfahrungen der Gegenwart brechen sich so in den Textzeilen Bahn.

Aber diese Verknüpfung zwischen Konflikten von heute und dem Stoff von Sophokles hält nicht lange in der Inszenierung des jungen Regisseurs Ersan Mondtag. Er hat einen enormen Stil- und Kunstwillen, eine Lust an exaltierten Formen und Künstlichkeit, die auch diesmal stark ist. Er ist in diesem Jahr zum zweiten Mal zum Theatertreffen eingeladen. Doch was an seiner Ästhetik herausfordernd ist, stellt in „Ödipus und Antigone“ einen zu großen Abstand zum Inhalt her. Auch wenn der Text unter Verwendung von neuen Übertragungen und in der Bearbeitung durch den Regisseur inhaltlich durchaus interessante Alternativen einschlägt, richtig folgen kann man dem nicht.

Verblüffend ist, mit welcher Leidenschaft Ersan Mondtag, nicht zuletzt ob seiner Jugend gefragt – er ist Jahrgang 1987 –, sein Theater alt aussehen lässt. Die Spieler, sie kommen alle als Greise geschminkt, mit dicken faltigen Lappen im Gesicht, auf die Bühne; nicht nur Ödipus, der an zernarbten Füßen leidet, humpelt wie vom Ischias geplagt, alle bewegen sich wacklig und staksend. Ihre Kostüme (von Josa Marx) sind steif, purpurfarben und kurzgeschnitten. Die Bühne (von Julian Wolf Eicke und Thomas Bo Nilsson) besteht aus einer steilen Treppe, die an einem Sarg endet. Unten zitiert eine Veranda aus weißem Holz ein – besser: das – „Weiße Haus“, Palast und armseliger Rest eines Palastes in einem.

Traurige Streichermusik unterlegt die Texte, über Mikroport gesprochen. Es blitzt und donnert, nicht nur, wenn das Orakel von Delphi aufgesucht wird. Die Menschen sehen hier alle wie Gespenster aus, wie Walking Deads. Das nimmt ihrer Angst vor den Toten und deren Forderungen an ihr Leben, die in „Ödipus und Antigone“ verhandelt werden, etwas den Wind aus den Segeln. Wovor sie sich fürchten, wovor ihre Gesetze sie schützen sollen, das scheint ja immer schon eingetreten.

Will das die Inszenierung erzählen? So klar ist das nicht. Ödipus, den Benny Claessens als ungeduldigen, überforderten, weinerlichen Mann anlegt, soll seine Stadt Theben von der Pest befreien. Eigentlich, denkt man, hasst dieser zusammengesunkene Mann jede Form von Verantwortung, er hat keine Lust auf Regierung. Das Leiden an dem, was man von ihm will, ist in jeder Geste Claessens deutlich. Und ausgerechnet der wird von Orakeln, von Volkes Forderungen und von Botenberichten auf einen Trip der Selbsterkenntnis geschickt. An deren Ende er sich selbst als Verursacher der Pest, der göttlichen Strafe, für Vatermord und Inzest wiederfinden muss. Wie ein unleidliches Kind absolviert er diese Geschichte, Selbstblendung inklusive.

Im letzten Teil, „Antigone“, tritt diese selbst gar nicht auf. An der Figur der Antigone, die gegen Kreons Gebot ihren toten Bruder Polyneikes beerdigen will, macht sich in der Theorie von Theater und Philosophie immer wieder eine Geschichte des Aufbegehrens fest, eines subjektiven Verlangens nach Menschlichkeit gegen die Gesetze, die Kreon vertritt. Deren Legitimität, und damit die des Staates, steht auf einem unsicheren Grund, und danach zu fragen ist Antigones eigentliches Vergehen. Sie ist damit zu einer Heldin von Kritik und Aufklärung geworden. Und genau diese Heldin verweigert Mondtags Inszenierung. Stattdessen lässt sie den großartig zögerlichen Aram Tafreshian einen unsicheren und durchaus nicht an seiner Macht hängenden Kreon spielen, der Antigones Fragen gar nicht so falsch findet, von seinem Volk aber dazu getrieben wird, sie zu verdammen.

Das ist eine durchaus interessante Wendung des Dramas, sicherlich auch beflügelt von aktuellen Führungsfiguren und ihren Wählern: die antiken Dramen, die ja auch als Zeugnisse einer frühen demokratischen Kultur gelten, als Warner vor deren gefährlichen Wendungen gelesen. Allein diese Deutungsebene wird zwar angerissen, verliert sich dann aber im Horrorfilm ähnlichen Weitergang. Aber immerhin, man hat schon ein paar Knochen hingeworfen bekommen, um daran zu nagen. Katrin Bettina Müller