Ferienlager Volksarmee

Es grüßt die Militärklamotte: Leander Haußmanns neuer Film „NVA“ feiert die Komik des Kasernenhofs und die reine, jugendliche Männerseele. Was der Wehrdienst für junge Männer in der DDR bedeutete, interessiert den Regisseur wenig

Wie schwer drückt die Aussicht auf 500 Tage, wenn schon der erste niemals enden wollte?

von JOCHEN SCHMIDT

Der Armeedienst eignet sich ideal für einen Film, nicht umsonst stirbt das Genre nicht aus. Eine Kaserne ist ein Zauberberg, auf dem Typen verschiedenster Sozialisation und intellektueller Herkunft aufeinander treffen und ihren Bildungsroman erleben. Die unfreiwillige Einheit des Orts, der vorgegebene zeitliche Rahmen zwischen Einberufung und Entlassung, eine Atmosphäre der Eintönigkeit, in der auch der plumpeste Geist Fantasie entwickelt, und sei es nur der hundertmal im Kopf abgespulte Film vom Tag der Entlassung, wenn man das Tor für immer hinter sich zufallen hört.

Die NVA war eine zentrale Institution der DDR, kaum ein Mann kam an ihr vorbei. Im Mikrokosmos dieses Landes gab es diesen anderen Mikrokosmos mit einem Dschungel an offiziellen und inoffiziellen Traditionen, Vorschriften, Ritualen und Sprachschöpfungen. Es wurde Zeit, dass sich endlich ein Film dieses Materials annahm, immerhin war die NVA ein Spiegelbild der DDR, die unmotivierteste Armee der Weltgeschichte. Irrt man sich oder war in diesem scheinbar so durchmilitarisierten Land eine positive Einstellung zum Militär nicht möglich? Der durchtrainierte, soldatisch kompetente Fighter amerikanischer Kriegsfilme, er wäre schon an der Uniform, vor allem den Stiefeln, und an der unbrauchbaren Feldausrüstung gescheitert. Zudem stand der Sadismus der Offiziere und Mitsoldaten im krassen Widerspruch zur antifaschistischen Doktrin dieser Armee. Was den Hartnäckigen vom Glauben an den Sozialismus noch geblieben sein mochte, wurde ihnen im Kasernenalltag von den Soldaten älterer Diensthalbjahre, unter Duldung der Offiziere, ausgeprügelt. Die NVA war, nicht anders als die DDR, eine urpreußische Einrichtung.

Diesem soziologisch kaum erschlossenen Feld widmet sich Leander Haußmann in seinem neuen Film. Es ist eine Komödie geworden. Warum nicht? Jeder, der dabei war, weiß, dass es viel zu lachen gab. Was sollte man auch sonst tun, um sich die Zeit zu vertreiben? Außerdem war die Absurdität der Vorschriften und Sprachregelungen kaum zu überbieten, die Armee ist nun mal ein Slapstick-Paradies. Dennoch, wie traurig sähe es um die (west)deutsche Filmgeschichte aus, wenn es zum 2. Welkrieg nur Militärklamotten wie „08/15“ gäbe mit ihrer widerlichen Lausbubenmentalität – und nicht Bernhard Wickis „Die Brücke“?

In der NVA wurden junge Männer systematisch physisch und psychisch misshandelt. Das war keine Randerscheinung, sondern fester Bestandteil der Erziehung und Gewährleistung der „inneren Ordnung“. Aber nicht weniger beunruhigend ist die Dunkelziffer von jungen Männern, die hier vom aus preußischer Zeit ererbten Selbsterziehungssystem sanktioniert, auch E-Bewegung genannt, nach zivilen Maßstäben zu Gewaltverbrechern wurden. So gut wie jeder Mann hat diese Schule vom sadistisch erniedrigten Glatten (Soldat des 1. Diensthalbjahres) zum Quasi-Gott „E“ (Entlassungskandidat) durchlaufen.

Haußmann geht es aber um etwas anderes. Wie bei seinen bisherigen Filmen will er den Typus der reinen, jugendlichen Männerseele feiern. Diesmal hat er als Casting-Coup dafür Kim Frank (Ex-„Echt“) gewonnen, dessen Rolle als Henrik ihm allerdings nicht viel mehr abverlangt, als sein verträumtes Milchgesicht zu zeigen. Offenbar inszeniert Haußmann am liebsten auf die besondere Szene hin, die dann mit dem besonderen Stück Musik unterlegt wird, Kino als Traum. Ein illegales Date auf dem Wachtturm, im Licht der Abendsonne, wenn das keine ultimative Freiheitsfantasie ist!

Bei „Sonnenallee“ hat Haußmann mit dieser Form von Magie bewiesen, dass es einen Weg gibt, die DDR anders als mit Mitteln des Historienfilms zu erzählen, indem er sie ins Theaterhafte überzeichnete, was dem Gegenstand, der selbst surreal genug war, wunderbar gerecht wurde. Der Film hatte Pionierfunktion: So waren wir, und so vermissen wir uns. Weshalb man sich später fragte, warum Herr Lehmann, wenn seine Welt so langweilig war, wie beschrieben, nicht einfach zu uns rüberkam. Flaschenbier hatten wir doch auch.

„NVA“ geht leider nicht weit genug. Die Details stimmen natürlich, das klappernde Kaffeegedeck, die Bastelarbeiten, der neurotische Spieß, die H-Milch-Tüten, die Fliegenvorhänge, die Sprache: „Da will einer Individuum sein“ – „Sie sind ein Rostfleck am Schwert des Sozialismus.“ Die vom Fenster hämisch mit ihren Maßbändern winkenden E, die Uniformausgabe in der Effektenkammer, das Haareschneiden, das Paket, in dem die Zivilsachen nach Hause geschickt wurden. Das allgemeine Briefeschreiben in der ersten Zeit. Wenn junge Männer, die seit der Schule nie mehr schriftlich einen Satz formuliert haben, plötzlich gezwungen sind, ihre Sehnsucht in Worte zu fassen. So etwas hat eine rührende Komik. Allerdings wirkt es bei der Fülle der Episoden schnell so, als sei der Armeedienst spannend und abwechslungsreich gewesen, wie ein Ferienlageraufenthalt, dabei war er genau das Gegenteil. Wie schwer drückt die Aussicht auf über 500 Tage, wenn man den ersten, der nie enden wollte, endlich hinter sich hat? Wie übersetzt man Angst, Demütigung und Verlassenheit in Bilder?

Einen Gegenpol zur reinen Komik soll die Geschichte von Krüger (Oliver Bröcker) bilden, der Henrik unter die Fittiche nimmt und als notorischer Aufrührer irgendwann in die Strafeinheit Schwedt versetzt wird, das schwarze Loch der DDR. Jeder kannte die Drohung, dort zu landen, aber was dort geschah, wusste niemand genau. Der Rocker Krüger kommt als geistig umgepolter Mustersoldat mit mit versteinerter Miene zurück. Allerdings sind die Offiziere irgendwie die vielschichtigeren Figuren, schließlich bricht für sie (der Film spielt zur Wendezeit) eine Welt zusammen. Detlev Buck zeigt als Oberst Kalt, was jahrelanges Leben nach der Dienstordnung schon rein physiognomisch aus einem Menschen macht.

Kurz nach der Pubertät kam für die meisten der Wehrdienst, eine einschneidende Erfahrung, die auch ein Teil der DDR-Identität der Ostdeutschen ist. Gut, dass sich dem endlich ein Spielfilm widmet. „NVA“ sollte ein Anfang sein. Keinen, der dabei war, wird der Film allerdings restlos zufrieden stellen können. Schließlich hat jeder seinen eigenen Film im Kopf, und wer es erträgt, sich den ungeschnitten anzusehen, der hat Glück gehabt, oder er war ein Schwein.

„NVA“. Regie: Leander Haußmann. Mit Kim Frank, Oliver Bröcker, Detlev Buck u. a. Deutschland 2005, 98 Min.