Jede Familie gründet auf Illusion

Sarajevo „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ heißt der große, epische Roman des kroatisch-bosnischen Autors Miljenko Jergović. Diese Geschichte einer Einwandererfamilie ist zugleich eine intime Historiografie von Sarajevo

Uneindeutige Identitäten: Diese Marktszene in Sarajevo wurde um 1900 aufgenommen Foto: imago/Ullstein-Bild

Von Doris Akrap

Einen guten Erzähler erkennt man daran, wie er Familiengeschichten erzählt. Wer es schafft, die Spannung zu halten, wenn von der verstorbenen Mutter der Cousine dritten Grades die Rede ist, deren Großonkel der Taufpate der jüngsten Tochter der drittältesten Tante väterlicherseits ist und deren einzig noch lebende Schwester die Stiefmutter des jüngsten Urenkel des Großcousins, der kann es einfach. Was wie hier nach Staub und Stammbaum klingt, wird in den Händen von Könnern zum zeithistorischen Porträt von Gesellschaft und Politik, Stadt und Land.

Der Roman des kroatisch-bosnischen Autors Miljenko Jergović, „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“, ist dicker als ein Ziegelstein und wartet schon nach ein paar Dutzend Seiten mit zehn sehr unterschiedlichen Familienmitgliedern auf und erzählt über ihre Herkunft aus winzigen Flecken in den hintersten Ecken Europas. Und es werden noch Dutzende mehr.

Der Ich-Erzähler ist der letzte Spross der Familie Stubler aus Sarajevo, deren Niedergang der Autor hier dokumentieren will. Die meisten Familienmitglieder der Stublers waren weder gläubig noch kommunistisch. Und auch mit der nationalen Identität hatten sie nicht viel am Hut. Urgroßvater Karlo Stubler, ein Eisenbahner und Deutscher aus dem Banat, war mit seiner Familie als Kuferaschen nach Bosnien gekommen, als Kofferkinder. So nannte man in Bosnien Leute, die sich unter Kaiser Franz Joseph aus allen Teilen der österreich-ungarischen Monarchie auf dem Balkan ansiedelten, weil sie dort Arbeit und Steuererleichterungen bekamen.

Diese Einwanderer, die vermeintlich aus Koffern lebten, schufen eine ganz eigene Identität jenseits der Nationalität: Aus den ständig wechselnden Herrschaften und ideologischen Wetterumschwüngen von Monarchie über Sozialismus zu Na­tio­nalismus auf dem Balkan halten sie sich raus. Umso abwesender jedoch die politischen Frontkämpfe sind (dass der Älteste der Großmutter sich der Wehrmacht anschloss, wird als Unfall interpretiert), desto härter erscheinen die innerfami­liä­ren Frontkämpfe um Schuld und Verantwortung für das Schicksal der Einzelnen in diesem mal fiesen, mal grotesken, mal hübschen 20. Jahrhundert auf dem Balkan. Am Ende verlieren die Stublers als Familie. Und der Nationalismus siegt historisch über den Sozialismus. Die große Erzählung unterbricht der Autor ständig durch kurze Notizen, Abschweifungen und Skizzen. Und er erzählt elliptisch. Zentrale Figuren, vor allem die Mutter, werden immer wieder umkreist, andere verschwinden im Off. Die Details der Orte und Beziehungen folgen keiner Chronologie, sondern Erinnerungsspuren, Imaginationen und Selbstvergewisserungsprozessen.

Damit unterstreicht der Erzähler seine immer wieder kehrende Feststellung, dass jede Familie so „wie jede kulturelle, verwandtschaftliche oder häusliche Gemeinschaft auf einer Illusion gründet“. Die Illusion besteht im Glauben an Gemeinsamkeiten, Kontinuitäten, Zusammenhalt. Der Roman beginnt trotzdem mit der Feststellung einer faktischen Kontinui­tät: „Vater, zwei Onkel und ich haben dasselbe Sarajever Gymnasium besucht“, so lautet der erste Satz. Was Jergović auf den folgenden 1118 Seiten über die Familie Stubler erzählt, weist aber nur eine Kontinuität auf: die des Verlusts in Form von Toten, Vergessenen, Ausgestoßenen, Verlierern.

Als Chronist des Balkans ist Jergović bekannt und anerkannt. Aber er kann nicht nur Balkan. In seinem aktuellen, bisher nur auf Polnisch erschienener Roman über den polnischen Fußballspieler Wilimowski, der 1938 bei der Fußball-WM vier Tore gegen Brasilien schoss, zeigt er, dass ihn sein Gespür für uneindeutige Identitäten auch in anderen Kontexten große Geschichten erzählen lässt. Jergović selbst ist als in Bosnien geborener Kroate einer, der schon immer mit uneindeutigen Identitäten zu tun hatte. In „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ erzählt er anhand seiner eigenen Sarajever Familie – auch wenn man nicht genau weiß, wo die Recherche aufhört und die Fantasie beginnt – trotzdem am allerwenigsten eine persönliche Geschichte.

Mit seiner akribisch genauen Beschreibung der Viertel, Straßen, Gebäude, Nachbarn und Freunde der Familie Stubler schafft er so etwas wie eine intime Historiografie der bosnischen Hauptstadt Sarajevo seit Ende des 19. Jahrhunderts. Ständig legt man das Buch zur Seite, um alte Stadtpläne Sarajevos im Internet zu suchen, weil man genau wissen will, wo das Viertel und die Straße ist, in dem das Sommerhaus des armenischen Istanbulers Balijan stand und wo das Haus, aus dem die jüdische Nachbarin deportiert und der kroatische Ustascha wohnte, der sich später als Spion der Partisanen herausstellte.

Jergović hat seine Erzählung so sorgfältig und raffiniert komponiert, dass man zwar nach 500 Seiten ziemlich erschöpft ist. Aber wenn man es so hält, wie mit Familienbesuchen: ein bisschen Durchlüften, Abstand halten und sich ein paar Tage nicht melden, dann hat man irgendwann wieder große Lust, die weiteren Verwandten auf den nächsten 500 Seiten zu besuchen.

Denn die Schichten, aus denen Jergović seinen Roman gebaut hat, sind mindestens so raffiniert wie die Blätterteigschnecke des bosnischen Bureks und so tiefgründig wie die Muster aus dem bosnischen Mokkasatz.

Miljenko Jergović: „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling, Frankfurt am Main 2017, 1.144 Seiten, 34 Euro