HDP-Politiker über Erdoğans Referendum: „Ein Europa-Feindbild erzeugen“

Polarisierung und Spaltung – so soll von den Inhalten der neuen Verfassung abgelenkt werden. Der HDPler Mithat Sancar beschreibt Erdoğans Taktik vor dem Referendum.

Ein Plakat, das Erdogan zeigt

Dauerpräsent: Recep Tayyip Erdoğan Foto: dpa

taz: Herr Sancar, Sie haben sich im türkischen Parlament kürzlich sehr kritisch zur jüngsten Entlassungswelle von Akademiker*innen geäußert. Haben Sie nach dieser Rede auch Zuspruch aus der Regierungspartei AKP bekommen?

Mithat Sancar: Ja. Ich hatte thematisiert, dass es in der AKP viele Menschen gibt, denen 1996 durch ein ähnliches Notstandsdekret selbst Unrecht widerfahren war. Daraufhin kamen einige AKP-Abgeordnete auf mich zu und sagten, dass sie die Entlassungen innerhalb der Partei kritisiert hätten. Aber das reicht nicht, habe ich ihnen gesagt. Ich habe zu den Menschen gehört, die sich 1996 für die heutigen AKPler eingesetzt hatten, und zwar in aller Öffentlichkeit. Auch wenn das mit Risiken verbunden war. Deshalb sind die Worte dieser Abgeordneten weder glaubhaft, noch können sie irgendetwas bewegen.

Welche innenpolitischen Folgen hat die diplomatische Krise mit der EU?

Diese Krise ist eine Folge von Erdoğans innenpolitischen Manövern. Ein wichtiges Referendum steht an, und Erdoğan hat eine Wahltaktik, die er jedes Mal fährt: Polarisierung und Spaltung. Er versucht damit, seine Wählerschaft zu behalten und gleichzeitig die nationalistischen Stimmen zu bekommen. Er versucht zudem, die Wirtschaftskrise bis zum Referendum noch verdeckt zu halten. Momentan fließt sehr viel unregistriertes Geld in die Türkei, vermutlich aus den Golfstaaten. Das sorgt dafür, dass die Krise noch nicht so sichtbar ist. Doch trotz aller Bemühungen Erdoğanssieht es sehr danach aus, dass eine Mehrheit gegen die neue Verfassung stimmen wird.

Woran sieht man das?

Die AKP hat die Vorlage zur Verfassungsänderung gemeinsam mit der rechtsextremen MHP erarbeitet, doch ein Großteil der MHP-Wähler unterstützt die neue Verfassung laut Umfragen nicht. Zudem gibt es innerhalb der AKP eine nicht zu unterschätzende Gruppierung, die ebenfalls unzufrieden ist.

Und was soll der Streit mit Europa daran ändern?

Innenpolitisch kann man nicht noch mehr Polarisierung erzeugen als jetzt. Die Lage ist so angespannt, wie sie es nur sein kann. Also wird diesmal ein Feindbild im Ausland erzeugt. Das hat Erdoğan über Europa versucht. „Die Ausgrenzung der Türkei“, „die Verteidigung des Islams gegen den Westen“ – wenn solche Diskussionen dominieren, so wohl die Hoffnung, dann wird weniger über die Fehler von Erdoğans Politik gesprochen.

wurde 1963 in der Türkei geboren. Der Rechtswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist kandidierte erstmals 2015 für die HDP und wurde ins Parlament gewählt. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Tanıl Bora hat er Jürgen Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ins Türkische übersetzt.

In Deutschland wird über diese Fehler gesprochen.

Um ehrlich zu sein, ist es nicht sehr hilfreich, dass Erdoğans Politik in Europa nur aufgrund der Wahlkampfauftritte diskutiert wird. Es gibt genügend andere Gründe, aus denen man über die Türkei sprechen sollte. Seit Monaten berichten wir als HDP in Europa von den massiven Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten, von der Aushebelung von Demokratie und Justiz. Doch niemand hat sich gerührt. Erdoğan ist seit Langem dabei, sein eigenes System aufzubauen, und alle haben zugesehen. Zugunsten des Flüchtlingsdeals wurde gar darüber hinweggesehen. Hätte man sich damals schon zu dieser Entwicklung verhalten, wären wir nicht an so einer unfruchtbaren Diskussion wie über Auftrittsverbote türkischer Politiker hängen geblieben.

Finden Sie die Diskussion über Auftrittsverbote falsch?

Es ist offensichtlich eine Diskussion, die das wahre Problem verfehlt. Rechtspopulisten wie die AfD instrumentalisieren dieses Thema für ihre eigene islamophobische und rassistische Ideologie. Dabei sollte es eine Diskussion über demokratische Werte geben. Wir empfinden Erdoğans Politik nicht nur als Gefahr für die Türkei, sondern als Teil einer weltweiten rechtspopulistischen Bewegung. Für uns gibt es zwischen Erdoğans Weltanschauung und der AfD, Marine Le Pen oder ­Geert Wilders keinen Unterschied. Wir sehen uns selbst wiederum als Teil des Widerstands gegen die AfD hierzulande, auch als Teil der französischen Demokraten. Deshalb finden wird jede Diskussion falsch, die den Rechten in die Hände spielt.

Im März hat das deutsche Bundesinnenministerium die Symbole einiger kurdischer Organisationen verboten, darunter die der kurdischen Partei in Syrien PYD und der Volksverteidigungseinheiten YPG. Was halten Sie davon?

Dass Fahnen von PYD und YPG verboten werden, ist für mich vollkommen unverständlich. Denn diese Organisationen stehen im Gegensatz zur PKK auf keiner EU-Terrorliste. Ganz im Gegenteil, die YPG wird im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ von der internationalen Koalition unterstützt. Somit gibt es keine rechtliche Grundlage für ein solches Verbot. Allein, weil die Türkei diese Organisationen als Feind einstuft, macht Deutschland durch dieses Verbot ein weiteres Zugeständnis an Erdoğan. Man kann das als Bestechung interpretieren.

Im vergangenen Herbst haben 60 Bundestagsabgeordnete ihre Solidarität mit den verfolgten und verhafteten HDP-Abgeordneten ausgesprochen. Ist diese Unterstützung rein symbolisch?

Bisher ist sie nur symbolisch, ja. Die Aktion hat einen guten Ansatz, doch leider wurde inzwischen wieder vergessen, dass unsere Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie zahlreiche Abgeordnete immer noch inhaftiert sind. Aber vielleicht darf man diese Last nicht den deutschen Parlamentariern aufladen. Ich habe Kanzlerin Merkel getroffen, als sie in Ankara war. Ich habe ihr gesagt, dass die Inhaftierung unserer Abgeordneten und Vorsitzenden nicht zur Normalität werden darf. Es gibt vier Parteien im türkischen Parlament, die drittgrößte Fraktion sind wir. Uns widerfährt ein Unrecht. In der Türkei existiert de facto schon ein autokratisches System. Die neue Verfassung will dieses nur stabilisieren.

Was wird sich in der Türkei ändern, wenn das Präsidialsystem doch eingeführt wird?

Das System, das Erdoğan forciert, sollte man nicht Präsidialsystem nennen. Dabei denkt man an die USA, aber das ist nicht vergleichbar. In den USA gibt es ein geregeltes Machtverhältnis. Was mit der Verfassungsreform in der Türkei kommen soll, ist hingegen eine Autokratie. Und Erdoğan hat noch eine andere Sorge: Er will sich und seine Familie schützen. Denn es gibt schwerwiegende Korruptionsvorwürfe gegen ihn und weitere Vorwürfe bezüglich seiner Eingriffe in den Syrienkrieg. Wenn er nicht mehr regiert, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er dafür vor Gericht muss. Deshalb will er seine Herrschaft zementieren.

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