Lernerfolge auch ohne Sprachkenntnisse

Vorschule Physik kann bei der Integration von Flüchtlingskindern helfen, sagt Didaktikprofessorin Gisela Lück. An bundesweit rund 50 Orten soll das Experimentieren das Selbstbewusstsein stärken

BERLIN taz | Gebannt blickt der Junge auf das kopfstehende Wasserglas vor ihm, in dem Luftperlen aufsteigen. Fasziniert von dem chemischen Reaktionsprozess, der in dieser simplen Versuchsanordnung abläuft. Vielleicht hat er schon eine Frage, die er in dieser deutschen Schule nur in seiner Heimatsprache stellen kann. Denn der Junge stammt nicht aus Deutschland. Er stammt aus einem Kriegsgebiet. Wo genau, spielt keine Rolle.

Was man auf dem Video sehen soll: ein Junge von 5,6 Jahren ist fasziniert von einem chemischen Versuch. Gefilmt hat ihn Didaktikprofessorin Gisela Lück von der Universität Bielefeld. Das Video zeigt sie im Februar auf einer Tagung in Berlin, die klären soll, welche Rolle die Naturwissenschaft bei der Integration spielen kann. Pädagogin Lück ist sich sicher: Die nichtsprachliche Kommunikation zwischen dem Kind und der Naturwissenschaft verschafft auch Kindern, die nicht Deutsch sprechen, für die Integration wichtige Lernerfolge. In dieser Intensität des Kontakts, beobachtet Lück, steckt eine bleibende Bildungswirkung, wenn die Versuche kindgerecht erklärt werden. „Ein langfristiger Lerneffekt von bis zu 80 Prozent ist nachweisbar. Das ist ein unglaublicher Bildungserfolg“.

Ursache ist nicht das Pauken naturwissenschaftlicher Formeln, sondern die Rahmung in narrativen Formaten wie die Geschichte von der Ameise Florian, die mit ihren 5.000 Freunden ein neues Haus bauen will. Nimmt sie dazu Stein, Salz oder Zucker? Schnell ist man auf spielerische Weise bei der Wasserlöslichkeit von bestimmten Stoffen gelandet.

Ihre Ansätze zur naturwissenschaftlichen Bildung im Vorschulalter hat Gisela Lück seit Ende 2015 auf Flüchtlingskinder erweitert. Ihre von einer Stiftung geförderte Gruppe Welcome Science hat bislang 191 Kinder und Jugendliche erreicht, zunächst in den Flüchtlingsunterkünften, später in Schulen, Museen und anderen Bildungseinrichtungen. „Bei diesen Experimenten vermeiden wir Knallgeräusche und Feuer“, sagt Lück, weil sie Erinnerungen an Kriegserlebnisse auslösen können. Die Kinder sind oft traumatisiert.

„Wir können ein Heilangebot machen“, sagt Lück. Durch Experimentieren wachse die Problemlösungskompetenz und damit das Selbstbewusstsein.

So wie in Bielefeld hat die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) mittlerweile an über 50 Orten bundesweit das Programm „Physik für Flüchtlinge“ angeschoben. Nach deren Angaben engagieren sich 1.000 Freiwillige, nahezu täglich melden sich weitere, um die Kinder zum selbstständigen Experimentieren anzuleiten, berichtet Projektkoordinatorin Sara Schulz. Dazu bekommen sie zwei Themenkisten mit ausgearbeiteten Lehrplänen rund um Elektrische Stromkreise und Optik. Derzeit laufen Aktionen in 38 Flüchtlingsheimen und 14 Schulen.

„Physikalische Phänomene sind universell und global“, betont DPG-Präsident Rolf-Dieter Heuer. „Sie sind für alle Menschen gleich, egal wo man sich befindet, welche Sprache man spricht oder welcher Religion man angehört“.

Manfred Ronzheimer