Jarvis Cocker und Chilly Gonzales: Zimmer mit Aufsicht

Das Album „Room 29“ der Musiker versammelt Songs über ein Nobelhotelzimmer in Hollywood. Hören kann man es in der Berliner Volksbühne.

Ein Mann sitzt vor einem Klavier, ein zweiter lehnt sich drauf

It's Chilly and Jarvis Foto: Alexandre Isard/Deutsche Grammophon/dpa

Hotelzimmer sind nicht gleich Hotelzimmer. Manchen eilen mysteriöse Geschichten voraus. Das spürte auch Jarvis Cocker, ehemaliger Sänger der britischen Band Pulp und ho­tel­er­probter Popstar. Als er während einer US-Tour erkrankte, checkte Cocker zur Erholung ins Chateau Marmont ein, dem am unteren Ende des Sunset Boulevard in Hollywood gelegenen Hotel. Das im Stil eines Loire-Schlosses erbaute Haus wird seit seiner Eröffnung 1929 von Filmgrößen, Musikern und anderen mondänen Persönlichkeiten frequentiert.

Dort haben sich bereits menschliche Tragödien abgespielt. Zimmer und Wände könnten von Exzessen und Einsamkeit erzählen. Der berühmte Fotograf Helmut Newton ließ dort etwa sein Leben, als er mit seinem Auto in eine Mauer des Hotels krachte. Allein die Aura des Chateau Marmont macht es zu mehr als nur einer Absteige. „ ‚Room 29‘, sagten sie, ‚ist das Zimmer, das du nehmen musst‘ “, singt Jarvis Cocker fast beschwörend. Bis zu jenem Tag, als er das Hotel betrat, waren seine Eindrücke von Hollywood von den Filmen bestimmt, die er als Kind im Fernsehen gesehen hatte. „Der Quelle dieser prägenden Bilder auf einmal so nah zu sein, war verstörend. Ungefähr so, als wäre ich beim Big Bang zu nah dran gewesen.“

Aus dieser Gemengelage heraus hat der 53-jährige Crooner zusammen mit dem kanadischen Pianisten und Komponisten Chilly Gonzales einen Liederzyklus entwickelt. „Room 29“ vereint von schlicht bis opulent changierende Melodien mit Popsongstrukturen und Liedern, die an die Tradition des romantischen 19. Jahrhunderts gemahnen.

Cocker erweitert den Themenkreis Hotel und zieht Parallelen zum Kino, wenn er auf ihre Gemeinsamkeiten verweist: In beiden können wir unsere Fantasien vorbehaltlos ausleben – bis es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Im Zeitalter von Pop darf man „Room 29“ Konzeptalbum nennen. Mit seiner markanten anheimelnden Stimme, die sekündlich in Boshaftigkeit umschlagen kann, erzählt Cocker von Bewohnerinnen des legendären Zimmers 29: Die Schauspielerin Jean Harlow verbrachte hier ihre Hochzeitsnacht.

„Room 29“ zieht Parallelen von einem Hotelzimmer zum Kino. In beiden können wir unsere Fantasien voll ausleben

Im Lied „Bombshell“ versetzt er sich in ihren Ehemann, den Filmproduzenten Paul Bern, der vom Leben mit der Sexbombe Harlow anderes erwartet hatte und fünf Monate nach der Hochzeit 1932 mit einer Kugel im Kopf aufgefunden wurde. Tropfende Akkorde künden von unausweichlichem Unheil. Cocker nimmt reale Vorkommnisse als Grundlagen, um seine eigenen, filmreifen Geschichten zu entwickeln – und sie zu kommentieren.

Tod eines Konzertpianisten

So vermuten Cocker und Gonzales, dass der Flügel, der in Zimmer 29 steht, ein Mitbringsel von Clara, der Tochter Mark Twains, ist. Die hatte das Zimmer kurz nach dem Tod ihres Ehemanns, einem Konzertpianisten, bezogen. Aber „Clara“ erzählt nicht bloß ehrfürchtig ihre Geschichte. Cocker fragt hundsgemein, wie es kommt, dass ihr Vater um so vieles schlauer war als sie, und was sie machen wird, jetzt, da ihre einzige Tochter dem Alkohol verfallen ist?

Im wehmütig-gehässigen „Tearjerker“, an dem der japanische Schauspieler und Musiker Ryuichi Sakamoto mit komponiert hat, verweist Cocker auf den schmalen Grad, der den Trottel (Jerk) vom Schmachtfetzen (Tearjerker) trennt, die Reprise „The Tearjerker Returns“ verdeutlicht, dass dieses Problem nicht so einfach aus der Welt zu schaffen ist.

Jarvis Cocker&Chilly Gonzales: „Room 29“ (Deutsche Grammophon/Universal)

live: 27./28./29. März Volksbühne Berlin. Restkarten an der Abendkasse

Oder er macht sich, durch parolenhaften Chorgesang schmissig unterstrichen, in „Belle Boy“ Gedanken über die unsäglichen Erlebnisse eines Pagen und ergreift vehement Partei für den den Grillen der exzentrischen Hotelgäste schutzlos ausgelieferten Angestellten. In prägnanten Zwischenspielen ergänzen Hotelgeräusche wie Fahrstuhlsummen, Handwagengeklapper oder Türenschnappen die Erzählungen. Mehrfach kommt auch der britische Filmhistoriker David Thompson zu Wort, mit dem sich Cocker für dieses Projekt 2014 im Chateau Marmont zum Gespräch getroffen hat.

Jagd auf Starlets

Untermalt von sehnsuchtsvollen Pianoakkorden liefert Thompson dokumentarische Hintergründe, etwa, dass der Filmmogul Howard Hughes vom Fenster seines Zimmers unterm Dach des Hotels, in dem er von Mitte der 40er Jahre bis Ende der 50er wohnte, mit einem Fernglas nach potenziellen Starlets „suchte“, die sich am Swimmingpool räkelten.

„Trick of the Light“ befasst sich mit der Illusion der bewegten Bilder, die „ein Leben versprechen, aus dem die langweiligen Teile herausgeschnitten sind“. Mit entsprechend üppigen Melodiebögen darf das Hamburger Kaiser Quartett hier eine Hollywood-Tanzrevue am Swimmingpool mit Federschmuck und viel Bein evozieren. Fast ein wenig zu schwülstig, zumindest aber mondän. Und damit ja nah dran am Thema.

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