Kommentar Türkischer Wahlkampf: Möglichst viel herausschlagen

Völlig von Sinnen? Dass die türkische Regierung plötzlich alle Wahlkampfveranstaltungen in Deutschland absagt, ist keine Laune, sondern fein kalkuliert.

Ein Foto von Erdogan inmitten einem Meer von türkischen Flaggen

Zustimmung im eigenen Land ist für Erdogan dann doch wichtiger als Profilierung gegenüber der EU Foto: dpa

Viele Bundesbürger haben in den letzten Wochen einen Recep Tayyip Erdoğan erlebt, wie ihn die Türken und Türkinnen schon lange kennen. „Irrsinn“, „verrückt“, „der Mann ist völlig von Sinnen“ waren die Kommentare, die dazu allenthalben zu hören waren. Doch so emotional der türkische Präsident sich bei seinen Ausfällen gegen den Rest der Welt anhört, nichts davon ist spontan, alles ist haarklein kalkuliert. Jetzt also sollen die Auftritte türkischer Minister, gar Erdoğans eigener Auftritt in Deutschland, abgeblasen worden sein.

Verkündet hat diese Entscheidung nicht etwa Erdoğan selbst oder eine andere hochrangige Figur der Regierung, sondern eine unbekannte Sprecherin der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die bislang den größten Teil der Auftritte in Deutschland und anderen europäischen Ländern organisiert hatte.

Damit stellte Erdoğan sicher, dass die Nachricht in der Türkei selbst kaum zur Kenntnis genommen wurde. Er lässt den Konflikt, für den er eine jahrzehntelange Annäherungspolitik der Türkei an Europa ohne Skrupel gegen die Wand gefahren hat, einfach fallen und wird in seinem Wahlkampf jetzt wohl auf andere Themen umschwenken.

Dafür dürfte es mehrere Gründe geben. Der wahrscheinlichste ist, dass das Thema ausgereizt ist und ihm die nahezu täglich erhobenen Umfragen signalisiert haben, dass die Fortsetzung der Kampagne ihm mehr schaden als nutzen würde. Es stimmt zwar, dass der nationale Furor sich damit anstacheln ließ, doch die Mehrheit der Türken will keinen völligen Bruch mit Europa, sondern hat im Gegenteil Angst, dass daraus nur Nachteile entstehen könnten. Angefangen von Schwierigkeiten bei Reisen zu den Verwandten bis hin zu einem völligen Absturz der türkischen Wirtschaft.

Denn trotz Faschismusvorwürfen und der angeblich überall in Europa herrschenden Islamophobie: Erdoğan will vor Beendigung der Beitrittsverhandlungen ja noch möglichst viel aus der EU herausschlagen. Während seiner letzten Kundgebung war eben nicht nur von Faschismus die Rede, sondern auch davon, dass man sich nach dem 16. April an einen Tisch setzen werde, um die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa neu zu regeln.

Wahrscheinlich ist, dass das Thema ausgereizt ist und die nahezu täglich erhobenen Umfragen Erdoğan signalisiert haben, dass die Fortsetzung der Kampagne ihm mehr schaden als nutzen würde

Dahinter steht die Vorstellung Erdoğans, ähnlich wie die Briten bei den Brexit-Verhandlungen für den Verzicht auf eine Vollmitgliedschaft mit der EU noch möglichst viele vorteilhafte Abkommen aushandeln zu können.

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