Die Last der Zeugin Melek A.

Ihre Mutter holt sie von der Polizei ab, fragt ihre Tochter aus. Endlich erzählt Melek alles. „Da hatte ich Rückhalt“,sagt sie leise, „da konnte ich aussagen“

AUS BERLIN SABINE AM ORDE

Es war eine scheue Liebe. Heimlich trafen sie sich, verdeckt von Bäumen, auf einem Hinterhof. Per SMS tauschten sie verstohlene Liebesbotschaften aus. Er sprach vom Heiraten. Doch ihre Beziehung dauerte gerade mal vier Wochen. Das Leben von Melek A. hat sie dennoch radikal verändert.

Nicht einmal ihr Name ist der 18-Jährigen geblieben. Seit einem halben Jahr ist sie im Zeugenschutzprogramm der Berliner Polizei, seitdem lebt sie mit einer neuen Identität ohne jeden Kontakt zu Familie und Freunden an einem geheimen Ort.

Melek A. hat gegen ihren Exfreund Ayhan ausgesagt. Und gegen zwei seiner Brüder. Die Staatsanwaltschaft hat die drei Männer wegen gemeinschaftlichen Mordes angeklagt. Sie sollen die Tötung ihrer Schwester geplant und durchgeführt haben, weil deren Lebensstil die Familienehre verletzt habe.

Die 23-jährige Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü wurde am 7. Februar an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof mit drei Kopfschüssen aus nächster Nähe getötet. Ihr Tod hat bundesweit eine erregte Debatte über so genannte Ehrenmorde ausgelöst. Melek A. ist die Hauptbelastungszeugin der Staatsanwaltschaft. Sie war nicht nur mit dem jüngsten Bruder, sondern auch mit einer der Schwestern der Toten eng befreundet und hat Einblick in das Leben der Familie Sürücü. Und in ihre Vorstellung von Ehre.

Durch einen Nebeneingang betritt die schmale junge Frau den Saal B 129 des Berliner Landgerichts. Sie hält den Kopf gesenkt, die langen, hellbraunen Haare verdecken ihr Gesicht; die Zuschauer sollen es nicht sehen. Mit schnellen Schritten geht sie zu dem Stuhl in der Mitte des Saals, der für Zeugen bereitsteht. Nach links, wo Ayhan Sürücü und seine beiden älteren Brüder Mutlu und Alpaslan hinter dicken Glasscheiben sitzen, blickt sie nicht. Auch nach rechts schaut sie nicht, wo Arzu Sürücü als Nebenklägerin Platz genommen hat. Arzu ist die Schwester der Toten und der drei Angeklagten. Sie war mal Meleks beste Freundin.

Melek trägt Turnschuhe und Jeans, unter dem weißen Kapuzenpulli zeichnet sich eine schusssichere Weste ab. Mit ihr kommen drei Polizisten in Zivil in den Saal, einer von ihnen setzt sich genau hinter sie. Als könnte jemand von hinten auf sie schießen.

Zwei Jahre ist es jetzt her, da lernte sie Arzu Sürücü kennen, erzählt Melek dem Richter. Sie spricht leise und in kurzen Sätzen, aber ihre Stimme ist fest. Die jungen Frauen wollen ihr Fachabitur machen, in der Schule sitzen sie nebeneinander und freunden sich an. Dass die heute 22-jährige Arzu ein Kopftuch trägt und Melek nicht, stört nicht. Doch als Melek ihre Freundin zum ersten Mal zu Hause besucht, ist sie überrascht. „Ich bin auch Moslem“, sagt sie in perfektem Deutsch, „aber das kannte ich nicht.“

Die strenggläubigen Sürücüs leben seit fast 30 Jahren in Berlin, sieben ihrer insgesamt neun Kinder sind hier geboren. Doch in ihrer Wohnung, die am Kottbusser Tor mitten in Berlin-Kreuzberg liegt, sitzen Männer und Frauen in getrennten Zimmern; wenn Melek kommt, werden die Türen geschlossen, damit kein Mann die Unverheiratete sieht. Den Vater, der sich häufig in der Türkei aufhält, bekommt sie fast nie zu Gesicht.

Die jungen Frauen sprechen viel über den Islam, ihre Freundschaft wird enger. Fast täglich ist Melek jetzt bei den Sürücüs. „Ich habe Arzu als große Schwester gesehen“, sagt sie dem Gericht. Immer mehr habe sie wie ihre Freundin gedacht. Anfang Januar entschließt sie sich, ein Kopftuch zu tragen. Arzu gibt ihr eins und hilft dabei, es anzulegen. Die Sürücüs hätten sich mit ihr gefreut, sagt Melek. Doch bei ihr zu Hause gibt es Krach. Die Mutter will nicht, dass Melek sich bedeckt. Die junge Frau fühlt sich unverstanden. Immer mehr fühlt sie sich bei den Sürücüs zu Hause.

Mit Arzu besucht Melek Ayhan, Arzus 18-jährigen Bruder, der in einem Internetcafé am Bahnhof Zoo arbeitet. Auch mit ihm spricht sie über den Islam. Ayhan sei streng religiös, erzählt sie ihren Freundinnen, die sie später kaum noch treffen wird. Ayhan hält es auch nicht für nötig, dass Mädchen zur Schule gehen. Sexualkundeunterricht lehnt er ab. Frauen, die zum Kopftuch enge T-Shirts tragen, beschimpft er auf der Straße als Schlampen. „In der Zeit habe ich das akzeptiert“, sagt Melek später. Sie will so sein, wie Ayhan sich ein Mädchen wünscht. „Ich hatte Gefühle für ihn.“

Am 20. Januar beginnen die beiden, sich Nachrichten per SMS zu schicken, für Melek ist das der Anfang ihrer Beziehung. Schon wenige Tage später zieht Ayhan sie unvermittelt ins Vertrauen. „Da hat er gesagt, dass er seine Schwester umbringen will.“ Hatun lebe nicht nach den Regeln des Islam; Schlampe und Hure habe er sie genannt. Hatuns damals fünfjährigen Sohn will Ayhan nach der Tat zu sich nehmen und ihn gemeinsam mit Melek aufziehen.

Melek kennt Hatun kaum. In der Familie, in der Melek schon als künftige Schwiegertochter gilt, spricht man nicht über Hatun, zu Besuch kommt sie nicht. Wenn sie ihren Sohn bei der Großmutter abholt, wartet sie unten an der Haustür auf ihn. Die 23-Jährige, die sich selbst Aynur nennt, ist für ihre Familie ein Tabu. Denn sie ist eine, die ihr eigenes Leben leben will. Eine, die kein Kopftuch trägt, die sich schminkt und wechselnde Liebhaber hat. Eine, für die man sich schämt.

Wie es zum Bruch mit der Familie kam, weiß Melek nicht. Niemand hat ihr von dem Verdacht erzählt, dass einer ihrer älteren Brüder Hatun sexuell missbraucht haben soll. Dass die Eltern ihre älteste Tochter zu einer Ehe mit einem Cousin in der Türkei gezwungen hatten. Dass Hatun sich getrennt und nach Berlin zurückgekehrt war. Dass sie hier in ein Mutter-und-Kind-Heim gezogen war, den Hauptschulabschluss nachgemacht und eine Lehre als Elektroinstallateurin begonnen hatte.

Melek spricht mit niemandem über das, was Ayhan ihr anvertraut hat. Nicht mit ihrer Freundin Arzu, die ja Hatuns und Ayhans Schwester ist. Nicht mit ihren Eltern, die nichts von der Liebe ihrer Tochter wissen. Melek schweigt auch, als Ayhan ihr in einem Park Einschusslöcher an einem Mülleimer zeigt. Am Abend zuvor will er dort Schießübungen gemacht haben.

„Da habe ich Angst bekommen“, sagt sie dem Richter. Trotzdem glaubt sie noch immer nicht, dass ihr Freund seine Schwester wirklich töten will. „Das will man nicht wahrhaben, wenn man jemanden liebt.“ Nachgefragt habe sie nie, sagt Melek. Vielleicht wollte sie keinen Konflikt mit ihrem Freund riskieren, vielleicht war sie einfach zu naiv.

Doch wenige Tage später ist es schreckliche Realität. Und wieder ist es Melek, bei der ihr Freund seine Last ablädt. Ayhan erzählt ihr, dass er seine Schwester getötet hat – und auch, wie es genau geschah. Dass er Hatun zu Hause besucht und gewartet habe, bis sie ihren Sohn ins Bett brachte. Dass er sie aufforderte, ihn zum Bus zu begleiten. Dass er sie fragte, ob sie Allah für ihre Sünden um Vergebung gebeten habe. Und dass er dann die Waffe zog. „Um Gottes willen, mach es nicht!“, soll Hatun gerufen haben. Dann schoss er.

Melek schweigt weiter. Aus Angst. Aber auch, damit ihr Freund nicht ins Gefängnis kommt. Fünf Tage später begleitet sie Ayhan auf seinen Wunsch hin zur Polizei. Er soll vernommen werden; auch sie wird befragt. Sie macht falsche Aussagen. Die Brüder hätten sie dazu gedrängt, sagt sie später vor Gericht.

Ihre Mutter holt sie von der Polizei ab, im Auto fragt sie ihre Tochter aus. Endlich erzählt Melek, was sie weiß. „Da hatte ich Rückhalt“, sagt sie leise. „Da konnte ich aussagen.“

Während Melek langsam und stockend, aber klar und strukturiert spricht, macht sich Ayhan hinter der dicken Glasscheibe Notizen. Er ist ein schmaler, ernst aussehender junger Mann mit akkurat gestutztem Bärtchen. Äußerlich hat er mit seinen beiden Brüdern, die neben ihm auf der Anklagebank sitzen, wenig gemein. Der 25-jährige Alpaslan schaut mit seinen Locken, der Intellektuellenbrille und dem bunten Ringelshirt wie ein weltoffener Student aus. Sein Anwalt betont später, dass Alpaslans Frau kein Kopftuch trägt. Mutlu dagegen, der geschieden und mit 26 Jahren der Älteste der drei ist, wirkt mit langen Haaren und Bart wie ein strenggläubiger Muslim.

Ob Ayhan mit jemandem über die Tat gesprochen habe, will Richter Heinz Peter Pefka jetzt wissen. Immer wieder fragt er nach, was Ayhan ihr genau erzählt habe.

Was Melek jetzt sagt, wird entscheidend dafür sein, ob die drei Brüder wegen gemeinschaftlichen Mordes verurteilt werden. Denn Mutlu und Alpaslan bestreiten jede Beteiligung an der Tat. Ayhan dagegen, der Jüngste der drei, hat am ersten Prozesstag die Schuld auf sich genommen. Ganz allein will der 19-Jährige seine Schwester getötet haben. Experten erkennen ein bekanntes Muster darin: Der jüngste Bruder begeht die Tat, weil er mit der geringsten Strafe zu rechnen hat – aber andere männliche Familienmitglieder haben entschieden. Ayhan könnte noch nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden, im Höchstfall drohen ihm dann zehn Jahre Haft.

Ayhan habe erzählt, sagt Melek jetzt, dass er sich vor der Tat mit Mutlu und Alpaslan getroffen und über die Tötung der Schwester gesprochen habe. Mutlu soll die Waffe besorgt und Ayhan gedrängt haben, den Mord endlich zu begehen. Mutlu habe auch in seiner Moschee gefragt, ob die Tötung der Schwester Sünde sei. Die Brüder sollen eine Moschee im Wedding besucht haben, die zu einer Abspaltung des ehemaligen „Kalifen von Köln“, Metin Kaplan, gehört. Die Tat sei selig, soll Alpaslan während des Gesprächs gesagt haben. Als Ayhan seine Schwester erschoss, habe Alpaslan in der Nähe gewartet.

Als die Verteidiger sie gestern befragen, wird Melek unsicher. „Ich weiß nicht“, oder: „Ich kann mich nicht erinnern“, sagt sie auf viele Fragen, die sie dem Richter vor einer Woche noch klar beantwortet hat. Dass Mutlu den Mordtermin festlegen wollte? An das Gespräch kann Melek sich nicht erinnern. Ob Alpaslan am Tag nach dem Mord überrascht gewirkt hat? Sie weiß es nicht. „Sie ist kurz davor zusammenzuklappen“, sagt Meleks Anwältin nach vier Stunden Befragung. Sie beantragt eine Unterbrechung. Hinter der Glasscheibe springt Alpaslan auf. „Sie soll hier aussagen“, brüllt er. „Es geht um ‚lebenslänglich‘.“ Dann beschimpft er Melek als „Lügnerin“, die Journalisten im Saal als „Arschlöcher“. Der Richter unterbricht die Verhandlung. Am 24. Oktober wird Melek noch einmal befragt.

Ob sie wusste, was die Aussage für ihr Leben bedeuten wird, hat der beisitzende Richter sie im Laufe ihrer Aussage gefragt. „Nein“, hat Melek leise geantwortet und sich mit der Hand durch das Gesicht gewischt. „Ich konnte damit nicht leben. Ich hatte Angst. Ich wollte ihn ja nicht heiraten. Aber die hätten mich ja nicht losgelassen.“