Ukrainischer Spitzenturner Wernjajew: Immer auf der Matte

Bei der EM stemmt Oleg Wernjajew wieder das umfangreichste Programm. Eine Pause kann sich der Mehrkampfsieger finanziell nicht leisten.

Oleg Wernjajew schwingt an zwei Ringen nach vorne

Nur an den Ringen reichte es für Oleg Wernjajew nicht für das EM-Finale Foto: imago/Schreyer

CLUJ-NAPOCA taz | Als Oleg Wernjajew im ukrainischen Donetsk mit den Turnen begann, da hat er vielleicht davon geträumt, mal Olympiasieger zu werden. Was er sich sicherlich damals im Kindesalter nicht im Traum vorgestellt hat, war, dass Kreisflanken und Kreuzhänge zu seinem Beruf werden würden. Und erst recht nicht, was für eine Knochenarbeit es sein kann, auf diese Art und Weise für seinen Lebensunterhalt sorgen zu müssen.

Im rumänischen Cluj-Napoca, in dem am Sonntag die diesjährigen Europameisterschaften zu Ende gingen, hatte der Barren-Olympiasieger von Rio mal wieder das umfangreichste Programm aller Teilnehmer: Sechs Übungen in der Qualifikation, sechs im Mehrkampffinale und nochmal fünf am Wochenende, denn der beste Turner Europas hat sich außer an den Ringen für alle Gerätfinals qualifiziert. Am Ende holte er Gold am Barren und im Mehrkampf, dazu Bronze beim Sprung.

Gerade der Mehrkampf war ein hartes Stück Arbeit. „Es ist nicht das erste Mal, dass es schlecht beginnt“, sagte Wernjajew später müde über seinen Sturz am ersten Gerät, „aber ich wusste ja, es kommen noch fünf Geräte.“ Nach dem vierten übernahm er die Führung und gab sie nicht mehr ab. Dabei war die Vorbereitung des 23-Jährigen denkbar schlecht verlaufen. Wernjajew hatte zuletzt zwei Wochen nicht trainiert, sondern mit einer Grippe im Bett gelegen. Aber einen Europameistertitel mag er sich nicht entgehen lassen.

Oleg Wernjajew ist die nach­olympische Saison so angegangen wie bislang noch jede Saison: mit Wettkämpfen. Als etliche seiner olympischen Mitstreiter noch im Urlaub weilten, stand er letzten Herbst schon wieder auf der Matte, in der deutschen Bundesliga und bei etlichen Einladungsturnieren.

Bei jedem Weltcup dabei

In der diesjährigen Weltcupserie war der ukrainische Sportler des Jahres 2016 einer von nur zwei Turnern, die bei allen Terminen antraten. Der Weltcup ist nicht besonders prestigereich, aber gut dotiert. 12.000 Schweizer Franken überweist der Internationale Turner-Bund dem Gewinner, 25.000 zusätzlich für den Gesamtsieg. Wernjajew wurde ein Mal Zweiter, zwei Mal Erster und Gesamtsieger: kurzum knapp 60.000 Franken. Bei der Stuttgarter Ausgabe scherzte der Co-Moderator und Turner Helge Liebrich über Oleg: „Ich glaube, dass er außer bei unseren Gaumeisterschaften bei jedem Wettkampf antritt.“

Eine Premiere: Elisabeth Seitz, 23, hat erstmals eine Bronzemedaille am Stufenbarren gewonnen. Die deutsche Turnerin teilte sich den dritten Rang mit der Mehrkampf-Europameisterin Elissa Downie (Großbritannien).

Ein Altmeister: Der rumänische Rekordturner Marian Drăgulescu gewann am Boden seinen zehnten EM-Titel. Der 36-Jährige hatte nach zehnjähriger Wettkampfpause erst 2015 sein Comeback gestartet.

Ein Pechvogel: Der sechsfache Europameister Krisztián Berki aus Ungarn musste sich am Pauschenpferd dieses Mal mit der Silbermedaille begnügen, weil er seine Übung zu spät startete und dafür 0,3 Punkte abgezogen bekam. Profiteur war der Russe David Beljawski.

Oleg Wernjajew bleibt nichts anderes übrig. Die Bedingungen des ukrainischen Turnens waren noch nie mit jenen in den USA oder in Japan vergleichbar, doch seit Ausbruch der Ukrainekrise im Mai 2014 hat sich die Lage massiv verschlechtert. Im nationalen Trainingszentrum Kontscha Saspa bei Kiew gab es veraltete Geräte, mieses Essen und unzureichende medizinische und physiotherapeutische Versorgung. Selbst an Magnesia, dem weißen Pulver, das die Turner für den sicheren Griff benötigen, mangelte es.

Vom ukrainischen Staat bekam Oleg Wernjajew 2015 ganze 100 Dollar pro Monat. Die im Vergleich zu anderen Sportarten geradezu lächerlichen Preisgelder sicherten im Wortsinne sein Überleben. Nicht selten halfen andere Länder aus. Seinen ersten EM-Titel 2015 widmete er dem medizinischen Team von Israel, das im Vorfeld seinen lädierten Fuß behandelt hatte.

Bei den Olympischen Spielen in Rio war Oleg Wernjajew trotz alledem der einzige Turner, der Superstar Kohei Uchimura im Mehrkampf nahe kommen konnte, es fehlte nur ein Hauch zum wichtigsten Titel.

Ukrainer und sonst nichts

Abseits der Matte verbreitet der freundliche und bescheidene junge Mann auch schon mal Fotos mit seinem Mops, allein die politische Situation in seiner Heimat mochte er nie kommentieren. Doch an einem Punkt ist mit Oleg Wernjajew nicht zu spaßen: Er turnt für sein Land und für kein anderes. Viele ukrainische Turner wechselten in den letzten Jahren hin zu besseren Bedingungen, nach Russland oder Aserbaidschan.

Wernjajew trotzte allen Abwerbeversuchen, auch jenen aus Deutschland. Wenn er nach einem Sieg demonstrativ auf sein gelb-blaues Trikot zeigt oder sich in die ukrainische Fahne einwickelt, hat das eine ganz spezielle Bedeutung. Für das Zentrum in Kontscha Saspa gibt es neuerdings Hoffnung: Im Januar wurde mit Japan ein Abkommen über knapp 75.000 Dollar unterzeichnet.

Geld, das laut NOK-Präsident Sergej Bubka in neue Geräte investiert werden soll. Oleg Wernjajew wird nach Abschluss der EM in Cluj ohne Pause weitermachen und in gut drei Wochen für die TG Saar in Cottbus auf der Matte stehen.

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