Die Normandie vor der Frankreich-Wahl: Die Rückkehrer

Noch, meinen Mathilde und Martin, können sie selbstbestimmt leben – allerdings nur auf dem Land. In der Stadt seien die Mieten unbezahlbar.

Eine Frau steht an einem Strand bei Ebbe

Fouras am Atlantik: Sieht verschlafen aus und ist es auch Foto: Gential Lambert, CC-Lizenz

FOURAS taz | An sehr schönen Tagen soll man von hier aus den Mont-Saint-Michel sehen können. Heute ist kein sehr schöner Tag, es liegt Nebel über der Bucht, das Graublau des Wassers geht über ins Graugelb des Himmels. Hier, in der Normandie, hängt der Himmel oft voller Wolken. Der örtliche Dialekt unterscheidet 40 verschiedene Regenarten, und die offiziellen Tourismusseiten bieten eine Rubrik an, was man bei schlechtem Wetter tun kann. Man sieht hier viele Menschen in Gummistiefeln.

Mathilde stört das nicht. Sie ist 39 Jahre alt, vor vier Jahren kehrte sie in die Normandie zurück. Aufgewachsen ist sie etwas weiter im Landesinneren, in der Nähe von Villedieu; ihr Elternhaus steht mit zwei, drei Nachbarhäusern inmitten riesiger Maisfelder. Vor drei Jahren ist sie an die Küste gezogen, 20 Kilometer entfernt. „Das ist eine ganz andere Welt“, sagt sie. Die Normannen gelten als eigenbrötlerisch, wortkarg, düster und erdig, ein Volk von Bauern, das hinter dicken Steinmauern lebt. „Für das Hinterland stimmt das auch.“ Aber an der Küste, da wohnen die anderen; die, die etwas gesehen haben von der Welt.

Mathilde ist auch schon herumgekommen. Sie hat in Marseille gelebt, in Brüssel und in Hildesheim, um Kunst zu studieren. Zuletzt wohnte sie in Lille, der Stadt, aus der ihr Mann stammt. „Es gibt“, sagt sie, „emotionale und rationale Gründe, hierher zurückzukommen.“ Die emotionalen: das Meer, die sanfte, melancholische Landschaft, die Ruhe. Die rationalen: die erschwinglichen Mieten, die angenehme Arbeitsatmosphäre. Sie ist Lehrerin, Kunst und Französisch. Als sie in ­Lille wohnte, hatte sie keinen festen Vertrag, sondern wurde als Springerin eingesetzt. Sie hatte kaum mehr Freizeit, und als sie schwanger wurde, war klar, dass sich etwas ändern musste. Zum Guten, wünschenswerterweise.

Spricht man mit ihr über die Unterschiede zur Stadt, antwortet Mathilde in Anekdoten. Neulich ist sie frühmorgens von lautem Muhen aufgeweckt worden; eine Kuh war von der benachbarten Weide ausgebrochen und in den hauseigenen Swimmingpool gefallen. „Früher hätte ich das nicht lustig gefunden“, sagt sie, „aber man wird genügsamer auf dem Land.“ Es passiert eben weniger, und man hat Zeit; Zeit, die Mathilde in die Kunst steckt. Früher hat sie eine Kar­rie­re angestrebt, jetzt ist ihr aktuelles Projekt, ihre Galerie fertig auszubauen. „Ich bin eine Provinzkünstlerin.“ Mathilde lacht. „Fehlt nur noch, dass ich Por­träts von Kühen male.“

40 Euro pro Quadratmeter

Mathilde hat den Eindruck, dass es immer mehr werden, die die Stadt fliehen für ein Leben auf dem Land. Die Statistiken allerdings widersprechen einem solchen Bild. Die Jugend vom Land zieht immer noch in die Ballungszentren. Das könnte sich ändern, denn das Leben in den Städten wird immer teurer, insbesondere in Paris. Eine Gentrifizierungswelle hat die Stadt überrollt und dafür gesorgt, dass sich die Wohnungspreise in den letzten 15 Jahren verdreifacht haben, auf um die 8.000 Euro im Schnitt pro Quadratmeter.

Es gibt in Paris kaum mehr bezahlbaren Wohnraum, durchschnittlich liegt der Mietpreis für den Quadratmeter bei 40 Euro. Und es gibt auch keine Viertel mehr, die günstig wären, selbst die früher verrufenen Ecken im 18. Arrondissement oder die Studentenviertel etwa entlang der Rue Oberkampf sind nun unerschwinglich. Also ziehen die Pariser in immer weiter abgelegene Vororte.

Das Leben eines Parisers, sagt man, besteht aus „boulot métro dodo“ – Job, U-Bahn, schlafen. „Paris la nuit, c’est fini, Paris va crevé d’ennui“, sang 1991 La Mano ­Negra, die Stadt wird eingehen vor Langeweile. Inzwischen ist es die Stadt mit dem höchsten Verbrauch an Antidepressiva pro Kopf in ganz Europa.

Wohnung mit gefälschten Papieren

„Wenn man jung ist, tut man sich das noch an“, sagt Martin, 36 Jahre alt. „Aber wir haben zwei Kinder. Das kann man in Paris nicht machen, außer man erbt.“ – „Das kann man nicht machen“ heißt: eine Wohnung haben, in Urlaub fahren alle zwei Jahre, einmal im Monat essen gehen.

Martin hat früher mit seiner Frau bei Porte de la Chapelle gewohnt, in einer der düsteren Gegenden in Paris. 54 Quadratmeter, 1.500 Euro, damals schon. Heute würden sie die Wohnung gar nicht mehr bekommen. „Die offiziellen Statistiken sind das eine“, sagt er, „aber entscheidend ist, was die Vermieter sagen. Wenn man nicht zu zweit 6.000 Euro verdient im Monat, lachen die einen aus.“ Wer in Paris lebt, müsse viele Papiere fälschen.

Inzwischen wohnt er in Fouras, an der Atlantikküste. Das Haus hat er von seinen Eltern geerbt, zum Meer sind es zwei Minuten. Vor fünf Jahren sind sie umgezogen, da kam das zweite Kind. Das erste Jahr hier sei wie Urlaub gewesen und auch die Integration problemlos verlaufen: Durch Krippe und Kindergarten finde man schnell Anschluss an Menschen vor Ort.

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Am 23. 4. ist die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen. Abgestimmt wird auch über die Zukunft der EU: Die Umfragewerte des rechtsextremen Front National sind höher als bei allen früheren Wahlen.

Die taz ist mit zwei Reporterteams in Frankreich unterwegs: In der Provinz und in Paris erforschen sie, was die Menschen umtreibt, welche Zukunft sie sich für ihr Land wünschen und wer dafür die Verantwortung tragen soll.

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Aber: „Die Provinz stirbt.“ In Fouras, etwas über 4.000 Einwohner, haben die meisten Geschäfte nur noch im Sommer auf, wenn die Touristen kommen. Selbst der Markt, der bisher jeden Tag stattfand, soll nur noch dreimal in der Woche sein. Die Stadt lebt vom alten Geld, von Pensionären und Feriengästen – noch. Fast 40 Prozent der Bevölkerung ist in Rente, Industrie gibt es nicht.

„Die Leute kümmert es nicht, was in 20 Jahren ist, denn dann werden sie tot sein“, sagt Martin. Dabei sollte gerade Fouras sich sorgen um die Zukunft, jedes Jahr frisst sich das Meer weiter ins Land. Nach dem großen Sturm 2010 mussten 60 Häuser abgerissen werden, das war die wichtigste klimapolitische Maßnahme der letzten Jahre.

Grafik: infotext-berlin.de

Ausatmen

Ist die Rückkehr aufs Land auch ein Rückzug ins Private? Ja, sagt Martin. Paris sei eine Stadt der Unsicherheit; nach den Anschlägen habe eine kollektive Neurose die Bewohner befallen, während hier auf dem Land keiner beeindruckt sei. „Wir haben Flaggen aus dem Fenster gehängt, das erste Mal seit der Weltmeisterschaft 1998“, sagt Martin. Das war’s.

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Ja, sagt auch Mathilde. Man kümmere sich mehr um sich, und es sei auch klar, dass die Zukunft anderswo entschieden werde. „Noch können wir ein selbstbestimmtes Leben führen. Aber das ist ein Luxus, der wohl nicht vorhalten wird.“ Die lokalen Kulturetats werden gekürzt; die alternativen Biotope auf dem Land werden weniger. Insbesondere der Front National trocknet die Kunstszenen aus, und es wird schlimmer werden, da sind sich Martin und Ma­thilde einig. „Egal wer die Wahl gewinnt, am Ende werden wir eine nur eingeschränkt funktionierende Regierung haben“, sagt Martin. Mathilde nickt: „Das Fatale ist: Es kommt dem Front National entgegen, wenn sie verlieren.“ Bis sie irgendwann gewinnen, vielleicht schon dieses Mal. Und dann? Nach Berlin, sagt Martin. Da kann man noch leben. Mathilde zuckt mit den Schultern. „Na ja“, sagt sie, „ich habe einen Garten.“

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