Stichwahl in Frankreich: Nicht Herz und Verstand

Junge FranzösInnen tun sich schwer. Taktisch abstimmen oder nicht? Unser 25-jähriger Autor schildert, wie ihn die Entscheidung quält.

Zwei Wahlplakate mit den Konterfeis Macrons und Le Pens hängen nebeneinander, dahinter geht ein Mann

„Mein Herz drängt mich, bei dieser entscheidenden Wahl einen leeren Stimmzettel abzugeben“ Foto: ap

PARIS libé | Am Abend des 21. April 2002 waren wir bei unseren Nachbarn auf einen Aperitif. Kurz vor 20 Uhr sind wir nach Hause. Meine Mutter sagte noch: „Nicht dass wir gleich die Ergebnisse verpassen.“

Der Sonntag war der einzige Tag der Woche, an dem wir vor dem Fernseher zu Abend essen durften. Rohkost zu Zeichentrickfilmen. An diesem Abend hatte meine Mutter ihren Far Breton gebacken – einen süßen Fladen mit Backpflaumen.

Als wir zur Tür reinkamen, hing der Geruch von Butter im Haus. Meine Mutter holte den Fladen aus dem Ofen und ich setzte mich vor den Fernseher. David Pujadas, der Fernsehmoderator, sprach mit betonten Worten: „Die Hochrechnungen für die erste Runde der Präsidentschaftswahlen …“

Aus dem Mosaik der Köpfe kristallisierten sich schnell die Gesichter der beiden Gewinner: Chirac 20 Prozent, Le Pen 17 Prozent. „Riesige Überraschung: Jean-Marie Le Pen scheint Zweiter zu sein“, sagte Pujadas ge­lassen.

Liberté

Fassungslos schrie ich zu meiner Mutter, die noch in der Küche war: „Le Pen ist in der zweiten Runde!“ Sie rief zurück: „Hör auf zu scherzen, das ist nicht ­lustig“.

Ich holte sie vor den Fernseher. Der Schreck verschlug ihr die Sprache. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: „Kinder, packt eure Sachen, wir wandern aus nach Deutschland.“ Es war ihr Überlebensreflex. Ich war zehn Jahre alt und dachte: „Wenn ich doch nur hätte wählen können. Ich hätte es verhindert.“

Später fragte ich, was wir gegen ihn tun können. Wir hatten keine Hunger, den Fladen haben wir kaum angerührt. Die Reste landeten später im Müll – das war noch nie passiert.

Wie viele Menschen meiner Generation hat mich dieser ­April im Jahr 2002 traumatisiert. Viele Leute werden Ihnen im Detail erzählen können, was sie an diesem Abend gemacht haben – so wie ich es hier erzähle. Trotzdem habe ich in diesem Jahr, einige Tage bevor der Front National in Frankreich die Macht ergreifen könnte, lange zwischen Herz und Verstand geschwankt.

Mein Verstand zwingt mich dazu, gegen Marine Le Pen zu stimmen und auf meinem Wahlzettel Emmanuel Macron anzukreuzen. Die gefährlichen Ideen, die Le Pen hat, sind nicht die, mit denen ich aufgewachsen bin und mit denen ich meine Kinder aufwachsen sehen will. Frankreich ist meiner Meinung nach kein Land, das sich auf sich selbst zurückzieht, sich von Europa entfernt und seine Einwohner nach Herkunft oder Reli­gions­zugehörigkeit stigmatisiert. Im Gegenteil: Es ist ein Ort der Freiheit, an dem ein französischindonesisches Kind wie ich, das in Deutschland geboren wurde, in Freiheit aufwachsen kann, ohne je seine Identität infrage stellen zu müssen.

Die Kandidaten: Am Sonntag treten Emmanuel Macron von der Partei „En Marche“ und Marine Le Pen vom „Front National“ bei der Stichwahl zum französischen Staatsoberhaupt an. Die Kandidaten der beiden großen Traditionsparteien, François Fillon von den konservativen Republikanern und Benoît Hamon von den regierenden Sozialisten, sind schon in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen ausgeschieden.

Die Auszählung: Die ersten Ergebnisse werden in Frankreich um 20 Uhr veröffentlicht. Das sind anders als in Deutschland keine Prognosen, sondern bereits Hochrechnungen auf Basis erster Auszählungen. In der Vergangenheit war mit den 20-Uhr-Zahlen der Sieger klar.

Nur, mein Herz drängt mich wiederholt dazu, bei dieser entscheidenden Wahl einen leeren Stimmzettel abzugeben. Emmanuel Macron ist ein perfektes Marketingprodukt: Er erscheint frisch und anders, aber seine Politik ist die der Kontinuität – und das, wo ich doch eigentlich auf Wandel hoffe. Sicher, Ma­cron ist jung, aber er war schon Wirtschaftsminister unter François Hollande und als solcher verantwortlich für die Wirtschaftspolitik von Frankreich – eine Politik, die durch und durch liberal ist und sich für die Öffnung der Märkte einsetzt (eine Politik, die etwa den transatlantischen Vertrag Ceta mitmacht).

Macron wird sich mit den Rechten und den Linken zusammentun müssen, um regieren zu können. Er ist ein Kompromiss aus den Ideen der Sozialistischen Partei (PS) und denen der Republikaner, und das ausgerechnet jetzt, wo wir einen Präsidenten bräuchten, der starke Ideen hat, symbolische und bahnbrechende Ideen.

Das Verhältnis zwischen Politikern und Bürgern ist heute so tief gespalten wie nie. Wir sollten also eigentlich die Art, wie heute regiert wird, überdenken. Gerade darin lag nun die Chance auf einen tiefgreifenden Wandel in Frankreich.

Egalité

Benoît Hamon war meiner Ansicht nach der, der den Kompromiss zwischen Herz und Verstand am besten widerspiegelte. Er hat die verkrusteten Ideen der PS über Bord geworfen – und die, die diesen Ideen anhingen – und seine eigenen durchgesetzt. Für die jungen Leute meiner Generation klang es wie ein schönes Versprechen, die Begriffe „ökologische Schulden“, „endokrine Disruptoren“ (Substanzen mit schädlicher Wirkung), „Grundeinkommen“ oder „Legalisierung von Cannabis“ aus dem Mund eines Politikers zu hören.

Unter jungen Leuten fand Hamon daher viele Unterstützer. Allerdings fiel es mir schwer, nach der Enttäuschung der vergangenen fünf Jahre unter François Hollande, wieder meine Stimme für die PS abzugeben.

Die taz und die französische Tageszeitung Libération machen journalistisch gemeinsame Sache. Wir arbeiten erst zur Wahl in Frankreich und dann zur ­Bundestagswahl zusammen. Dieser Beitrag ist Teil der Kooperation.

Philippe Poutou, der Kandidat der extremen Linken, hätte auch eine Lösung sein können. Er, der in den Fernsehduellen keinen Anzug trug und dafür plädierte, dass Politiker nur Mindestlohn bekommen, erzielte im zweiten TV-Duell einen großen Erfolg. Er war der einzige, der François Fillon und Marine Le Pen auf die schweren juristischen Vorwürfe ansprach, die gegen sie erhoben werden. Das Problem war, dass dieser Kandidat nicht da war, um zu gewinnen, sondern, um seinen Ideen eine Bühne zu geben.

Die letzte Lösung wäre Jean-Luc Mélenchon gewesen. Lange Zeit habe ich mich gegen den Kandidaten der Bewegung „Unbeugsames Frankreich“ gesperrt. Zu populistisch manchmal, oft zu impulsiv und dema­gogisch. Aber er hat, das muss man sagen, Ideen für einen radikalen Wandel: eine neue Verfassung, neue Regeln für den politischen Betrieb und Ideen, um den sozialen Zusammenhalt wieder zu stärken und Gleichheit herzustellen.

Einzig seine Vorstellungen von internationaler Politik waren fraglich: Er hatte vor, aus der EU auszutreten, wenn seine Bemühungen, die EU-Verträge neu zu verhandeln, scheitern sollten. Das wäre eine Desaster. Aber er hat es geschafft, diesen Punkt zu klären. Gewiss hat er auch mit einer populistischen Dynamik gespielt – viel mehr als Hamon oder Poutou.

Letztlich habe ich mich doch entschieden, für ihn zu stimmen. Und wie jedes Mal wenn eine Wahl ansteht, habe ich meine Oma angerufen. Sie beendet diese Gespräche immer mit einer Erzählung über den 10. Mai 1981, als, zum ersten Mal seit Bestehen der 5. Republik, ein Präsident der Linken, François Mitterrand, gegen Valéry Giscard d’Estaing gewann. „Du kannst dir nicht vorstellen, was das damals für uns bedeutete“, sagt sie jedes Mal. Nachdem die Ergebnisse bekannt waren, hat sie eine Flasche Champagner aus dem Keller geholt und die Korken knallen lassen.

Eine Woche vor dem ersten Wahlgang zu der diesjährigen Präsidentenwahl haben wir wieder telefoniert. Wie jedes Mal sprachen wir über Politik. Diesmal waren wir uns nicht einig. Ihr, die den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus miterlebt hat, geht es seit dem ersten Wahlgang vor allem darum, den Front National zu verhindern. Sie wählt taktisch, wählt vote utile, wie man in Frankreich sagt.

Fraternité

Ich hingegen kenne nur die Konsumgesellschaft und die Globalisierung, deswegen habe ich im ersten Wahlgang für den Wandel gestimmt. Am Sonntag, wenn wir unseren Präsidenten oder die Präsidentin für die kommenden fünf Jahre bestimmen, trage ich in mir mein Herz und meinen Verstand. Aber bevor ich meinen Stimmzettel in die Urne werfe, werde ich an meine Oma denken und an das Kind, das ich war im Jahr 2002.

Übersetzung Anne Fromm

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25, ist in Gummersbach geboren, im bretonischen Brest aufgewachsen. Seit zwei Jahren arbeitet er als Journalist bei der Libération.

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