Wahl in Nordrhein-Westfalen: Rückkehr nach Emmerich

Ein Heimatausflug zu den Abgehängten am Niederrhein, wo das Land deutsch und blass ist und AfD wählt. Und sehr schön sein kann.

Kraftwerk am Niederrhein

Sich Emmerich nähernd: Kohlekraftwerk bei Voerde am Rhein Foto: dpa

„Tom fragt, wo wir gehn, Alter.“

„Wir gehn Wesel.“

„Tom ist aber Voerde, Alter.“

„Ey, solln wir Voerde?“

„Wir gehn Wesel, Alter.“

„Wesel ist Abschaum, da bin ich jeden Tag, Alter.“

Ich sitze im Nationalexpress, der tatsächlich so heißt, aber englisch ausgesprochen wird. Es ist der Regionalzug, der von Düsseldorf den Rhein hinunter bis nach Emmerich fährt, der Endstation, der letzten deutschen Stadt am Rhein. In Dinslaken hat sich der Zug bereits fast vollständig geleert, Voerde und Wesel sind letzte Zwischenstationen; lauter deutsche Kleinstädte, im letzten Krieg zerbombt, bei denen man sich gelegentlich fragt, warum sie wiederaufgebaut worden sind. Kleinstädte in einem Landstrich, der getrost als abgehängt bezeichnet werden kann: der Niederrhein.

Abgehängt ist er, weil er lange vom ebenso kaputten Ruhrgebiet abhängig war und seine neue Bestimmung als schöne Provinz mit Landschaft und Nähe zu Holland noch nicht wirklich hat entfalten können. Die Bevölkerung schrumpft, die Jugend zieht weg. Nicht nur weil es hier Abschaum ist, also langweilig, sondern weil die Möglichkeiten fehlen, die Jobs, die Infrastruktur. Hat man einen Job, liegt der gern mal sechzig bis hundert Kilometer entfernt. Bleibt man da, ist man also auf ein Auto angewiesen.

Schrumpfende Städte, alternde Bevölkerung, so­ziale Abstiegsrealitäten, und hier und da ein abgesetztes Flüchtlingsheim. Klingt wie im Klischee, klingt wie von Kritikern des Neoliberalismus ausgedacht. Ist aber Wirklichkeit. AfD-Country nen­ne ich das Land zwei Tage später in einer WhatsApp-Unterhaltung vom Familienfest aus. Aber natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit. Es kann auch schön sein hier: eine flache Landschaft, der Rhein breit wie nie, der Ausblick vom letzten Hügel vor der Grenze aus endlos.

„Rückkehr nach Emmerich“ – der Titel dieses Texts sollte ein Witz sein. Andererseits hat Didier Eribons Buch auch mir die Augen geöffnet. Dass im Umfeld meiner Familie ernsthaft über „das deutsche Volk“ und die Flüchtlinge geredet wurde und wird, habe ich zunächst überhaupt nicht verstanden. Nun ist Emmerich, wo der wesentliche Teil meiner Familie herkommt und noch immer wohnt, nicht Reims. Reims stelle ich mir größer vor und weniger ländlich. Die Arbeiterklasse entlang der Rheinhäfen wurde hingegen schon seit den Siebzigern sukzessive „abgebaut“ – und ist von jeher mit einer bäuerlichen Struktur vermischt gewesen. So wählt der Kreis Kleve, aus dem zahlreiche christdemokratische Figuren (der Exbischof von Limburg, der Bahn-Mensch Pofalla, aber auch Barbara Hendricks von der SPD) hervorgegangen sind, traditionell eher schwarz.

30.000 Einwohner zählt die Stadt, der Statistik nach ist die Einwohnerzahl nahezu gleichbleibend, der Eindruck des Schrumpfens muss ein subjektiver sein

Emmerich war nicht nur wegen des Rheinhafens einmal ein wichtiger Umschlagplatz. Grenzstadt mit Autobahnanschluss, mit reichlich In­dus­trie (Katjes, Lohmann, Gimborn u. a.). Auch als Umschlagplatz für Schmuggelware war die Stadt bekannt. Seit Jahren wird jetzt über den Ausbau einer Güterzugstrecke verhandelt, die das Ruhrgebiet mit Rotterdam verbindet, aber noch hat sich nichts Entscheidendes getan.

30.000 Einwohner zählt die Stadt, der Statistik nach ist die Einwohnerzahl nahezu gleichbleibend, der Eindruck des Schrumpfens muss ein subjektiver sein. Nur wird er von vielen hier geteilt. Emmerich ist eine Stadt ohne Jugend. Mit totberuhigter Innenstadt. Eine Stadt, die seit Jahren in ein riesiges Seniorenheim mit Auslaufzone umgebaut wird. Gäbe es die auch nicht mehr ganz so jungen Touristen aus den benachbarten Niederlanden nicht, die so gern über die Rhein­promenade schlendern, könnten sie die Stadt gleich dichtmachen. Abreißen, renaturieren. Die Fußgängerzone ist wie leer gefegt. Den einzigen Laden, der noch Leben versprüht, hat ein Ge­müsehändler mit türkischem Hintergrund neu eröffnet.

Migration sollte in diesen Kleinstädten eigentlich höchst willkommen sein. Ist doch sonst nichts los. Und wer soll die bald Hinfälligen in diesen Rentnerstädten denn mal pflegen? Ihre längst abgewanderten Töchter und Söhne?

Die Jugend umarmt sich

Zur Wahrheit gehört aber auch: Anis Amri war hier. Der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz war in Kleve als Flüchtling gemeldet und in Emmerich im Flüchtlingsheim untergebracht.

Fragt sich nur, wo sie jetzt sind, die Flüchtlinge. In der Stadt sind jedenfalls keine zu ­sehen. Der Kandidat der AfD für den Kreis Kleve kommt üb­rigens auch aus Emmerich: Christoph Kukulies. Er schaffte es zuletzt in die Schlagzeilen, weil er zwei syrische Geflüchtete dazu gebracht hatte, für ihn Plakate zu kleben. Unentgeltlich, versteht sich. Wohl unter Vortäuschung falscher Tatsachen.

Die Jugend findet sich am Abend in der einzigen Kneipe, in die man gehen kann. Die halbe Jugend. Die andere Hälfte steht draußen und raucht. Es sind einige auffällig Übergewichtige da, aus jeder Altersklasse. „Hier scheint es ein Problem mit Adipositas zu geben“, sage ich zu einer alten Bekannten. Es war auch meine Kneipe, die Kneipe von früher, der Wirt ist im Oktober gestorben, eine Frau hat übernommen, das Interieur ist noch unverändert. Sie bemühen sich, die Idiosynkrasien des alten Wirts mit ihrer eigenen Eventkulturmentalität in Einklang zu bringen: Rockmusik, aber kein Karneval. Cola Light haben sie jetzt aber doch im Angebot.

„Vitamin-D-Mangel“, sagt die Bekannte. „In unseren Breiten häufiger.“„Die Sonnenlosigkeit“, sage ich. „Ja.“

Die Dorfjugend: Mädchen unterhalten sich mit Jungen, Jungen mit Mädchen. Das sieht gut aus. Auch modisch gesehen bin ich in anderen, dürren Zeiten aufgewachsen – den ausgehenden achtziger Jahren. Es gab keine Mädchen in dieser Kneipe. Oder jedenfalls nicht viele. Aber es gab Subkultur. Heute gibt es Subkultur nur noch als Erinnerung. Sie umarmen sich zur Begrüßung, sie tun es selbstverständlich. Auch diese Umarmungen gab es früher nicht. Vielleicht hat sich doch einiges zum Besseren gewandelt.

Frau, Kinder, Hund

Nur bei den Älteren eben nicht. Da herrschen Angst und Depression. Das Katholische und das Deutschnationale. Eine Landbevölkerung mit Angststörung, wie in einem Thomas-Bernhard-Roman. Die Stadt ist klein, Gerüchte verbreiten sich schnell, dazu braucht es nicht einmal das Internet. Überall sollen Einbrüche vonstatten ­gegangen sein, heißt es auf der Familienfeier am Abend. Aber niemand hat einen erleben müssen. Geht auch kaum. Haustüren werden verriegelt, es gibt Bewegungsmelder, alles wird ­sicher gemacht.

Auf der Familienfeier nimmt ein Mann ungescholten das Wort vom „deutschen Volk“ in den Mund. Er sitzt gleich neben mir: Wie ein Nazi sieht er eigentlich nicht aus. Bauunternehmer, Ende 40, Frau, Kinder, Hund, beheizter Swimmingpool vor bunkerähnlichem Neubau. Das deutsche Volk, das sich das alles nicht mehr gefallen lassen darf.

Hier sind alle depressiv und kaputt, meinte die Bekannte am Vortag in der Kneipe, und dort leben alle im Elend. Mit „hier“ war Europa gemeint, mit dort „Afrika“. So ungefähr.

Sie reden gern, meine Tischnachbarn, wechseln sich in ihren Monologen ab, räumen Sprechzeiten für die Monologe der anderen ein, die einen ähnlichen, wenn nicht denselben Tonus haben. Von echter Auseinandersetzung, von Kommu­nikation, von Zuhören verstehen sie nicht viel. Oder von der historischen Scham. Hier in AfD-Country fällt sogar das N-Wort wieder, und zwar völlig unironisch.

Hier sind alle depressiv und kaputt, meinte die Bekannte am Vortag in der Kneipe, und dort leben alle im Elend. Mit „hier“ war Europa gemeint, mit dort „Afrika“

Die WhatsApp-Konversation, eine Art Liveübertragung vom AfD-Stammtisch, an dem ich unfreiwillig gelandet bin, geht dann ungefähr so: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für einen Unsinn die Leute hier reden.“ – „Doch, bestimmt irgendwas zwischen Merkel muss weg, Die da oben und Flüchtlinge raus!?“ – „Exakt. Dazu noch: Wir werden alle belogen und In 20 Jahren tragen alle Kopftuch.“ – „Sogar die Männer!“ – „Alle. Und alle haben ein Handy. Und wieso kommen nur junge Männer? Und keiner will arbeiten, die wollen alle studieren.“ – „Die Bananenbieger.“

Die Auseinandersetzung damit ist nicht einfach. Und kostet Anstrengung. Und viel Bier. Am Ende des Abends torkle ich allein nach Hause und fühle mich von einem Ahornblatt verfolgt, das mir irgendwie am Schuh kleben geblieben ist. Ein weiterer Unterschied zu Eribons Reims ist: Die Wählerschicht der AfD besteht eher aus ängstlichem Kleinbürgertum denn aus (ehemaliger) Arbeiterklasse; deutsche Provinz halt. Der Niederrhein ist nur ein Beispiel. Eine Beispiellandschaft. Und die diffusen Gefühle der Abgehängten sind nicht grund­sätzlich falsch. Die Probleme sind da; was nicht da ist, ist ein Konzept zur Veränderung und das Gefühl, die Politik kümmere sich. Die Kleinbürger werden nicht repräsentiert (außer von der AfD), die für diese Leute hier wichtige Nebenfrage, ­warum der Islam scheinbar unkritisch behandelt wird (wo doch die christlichen Kirchen von den Linken und anderen lange bekämpft wurden), wird nicht beantwortet.

Am nächsten Morgen habe ich einen ausgewachsenen ­Kater. Die Landschaft glänzt. Am Bahnhof muss ich lange warten, weil der Nationalexpress, um eine spätere Wartezeit an einer Baustelle in Duisburg vorausschauend auszugleichen, zu früh abgefahren ist. 45 Minuten, um genau zu sein.

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