ZEIT.ORTE

Ulf Schleth, geboren 1968, schreibt Texte und anderen Code, ist Mitarbeiter der taz und geprüfter Forschungstaucher. Weitere Texte sind auf seiner Webseite www.schleth.com zu finden.

Anleitung zum Kielholen

Ulf Schleth, geboren 1968, schreibt Texte und anderen Code, ist Mitarbeiter der taz und geprüfter Forschungstaucher. Weitere Texte sind auf seiner Webseite www.schleth.com zu finden.

Ulf Schleth

Mein Fernbus kam am Nachmittag an. Ich hatte mich nahezu verflüssigt. Die Klimaanlage war während der Vierstundenfahrt ausgefallen, weil ein Reisender in einer der Bus-Steckdosen einen Kurzschluss verursacht hatte. Es war sehr stickig und der Körpergeruch der Fahrgäste hatte sich mit dem Uringestank aus der Bordtoilette gemischt. Was für eine Erleichterung, als die Türen sich öffneten und eine frische Brise direkt aus der Förde durch den Wagen wehte. Ich verließ den Bus als Letzter, nahm meine Rucksackreisetasche in Empfang und stiefelte los. Mein letzter Taucheinsatz lag eine Weile zurück und ich war seitdem nicht mehr hier gewesen. Die Einheimischen hatten sich verändert. Sie liefen wie ferngesteuert mit gesenkten Köpfen umher. Auch auf Grünflächen und in Parks: Gestalten mit gebeugten Häuptern, zuweilen in Gruppen herumstehend. Autos hielten am Wegesrand und heraus stiegen wortlos Menschen mit nach unten gerichtetem Blick. Sie hatten Handys in der Hand. Ich hatte schon von Pokémon go gehört, aber an diesem Tag sah ich zum ersten Mal eine ganze Stadt voller Pokémon-Zombies.

Es war später Sommer. Die untergehende Sonne tauchte die Dächer Kiels in ein warmes Gelb-Orange-Rot, das nach und nach von einer kräftiger werdenden pinkvioletten Korona umrahmt wurde. Wir saßen zu dritt unter Valeries Mansardendachbalkon und blickten über die Stadt, dem Geschrei eines Möwenpärchens lauschend, das direkt am Dach nistete. Es war sich nicht sicher, ob wir friedlich waren oder imstande, seiner Brut etwas zuleide zu tun. Im Hafen trötete ein Schiffshorn. „Georg ist am Boden zerstört. Marieke hat sich von ihm getrennt, weil sie von seiner Affäre mit Julia erfahren hat. Stefan hat ihr ein Bild von der Party bei Julia geschickt, er hat Georg mit Miriam beim Ficken auf der Toilette erwischt und ein Foto gemacht, auf dem man Georgs Schwanz noch in Miriam stecken sieht und die beiden ziemlich doof gucken.“ Noch gar nicht richtig angekommen, steckte ich schon tief im Tratsch der Stadt.

Valerie und Daniel schienen schon eine ganze Weile auf dem Dach gewesen sein, neben ihren Liegestühlen standen jeweils 3 leere Bierflaschen. Ich hatte erst seit Kurzem wieder Kontakt zu Valerie und vom Hafen mal abgesehen keine Ahnung von Kiel und wer Georg, Miriam und Marieke waren. „Marieke hat ihn aus dem Haus geworfen, er ist jetzt nach Gaarden gezogen, 40 Quadratmeter, die Kinder bleiben bei Valerie.“ Die klassische Geschichte. Alle begeben sich in ihre angelernten Geschlechterrollen. Heiraten muss sein. Die Beziehung reicht irgendwann nicht mehr, um das Bedürfnis an Aufmerksamkeit, Bestätigung und wildem Sex zu decken. Die innere Leere zu füllen. Affären müssen her. Georg tat mir leid. Er wird irgendwann feststellen, dass er mit seinen Kindern leben und seine Rolle ändern möchte. Marieke wird das aber nicht wollen. Weil er sich ja vorher auch nicht um die Kinder gekümmert hat und sie ihn nicht mehr mag. Sie tat mir auch leid. Sie werden sich streiten. Auf dem Rücken ihrer Kinder, die mir am meisten leid taten. Sie alle werden später eine gute Therapie brauchen.

„Ich verstehe nicht“, sagte Daniel, „warum Marieke sich so aufregt, sie hatte doch selbst drei Affären oder zwei, wenn man Andreas mal abzieht, den Hells Angel, den sie sich über Tinder angelacht hat und den sie immer noch versucht, sich vom Hals zu halten. Und die waren beide verheiratet und einer hatte selbst auch Kinder.“ „Ein Hells Angel“, fragte ich, „in Kiel?“ „Ja. ’92 wurde hier in einer Lagerhalle nach der einbetonierten Leiche eines Mannes gesucht, den die Angels umgebracht haben sollen; konnten sie aber nicht finden. Verboten wurden die Hells Angels trotzdem, aber die Küste ist immer noch unter ihrer Kontrolle.“ „Was meinst du mit ‚unter Kontrolle‘?“ „Schutzgelder, Prostitution und solche Sachen. Was die eben so machen.“ Während wir weiterredeten, versuchte ich mir vorzustellen, wie die Hells Angels einen distinguierten schleswig-holsteinischen Fischrestaurantbesitzer um Schutzgelder erpressen, aber das ging nicht, immer hatte der Hells Angel am Ende ein Fischmesser im Bauch oder wurde mit dem Regenschirm einer Restaurantbesucherin im Hintern aus der Stadt gejagt.

Das waren nichts als positive Vorurteile, das Schleswig-Holstein meiner Kindheit, das Echo einer nur in der Illusion eines Kindergehirns existierenden heilen Welt. „Natürlich ist es genauso sinnvoll, die Hells Angels zu verbieten wie die NPD. Ihnen nicht zu erlauben, ihrem antisozialen und menschenverachtenden Treiben den Anstrich von Legitimität zu verleihen. Aber so ein Verbot kann ja immer nur eine Pro-forma-Funktion haben. Wer glaubt, dass irgendwas nur durch ein Verbot aufhört zu existieren, muss ganz schön naiv sein.“ Daniel und ich nickten stumm.

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um halb sechs. Im Tauchlager packten wir die Ausrüstung zusammen und hängten das Schlauchboot an die Pritsche. Im Hafen angekommen, verluden wir alles auf den Kutter und stachen in See. Schönes Wetter, die Ostsee begrüßte uns mit offenen Armen und einer sanften Brise. Wir brauchten eine Stunde, bis wir den Einsatzort in der Hohwachter Bucht erreicht hatten. Wir gingen vor Anker. Prüften den Flaschendruck, legten die Anzüge an, ließen das Schlauchboot zu Wasser und packten die Ausrüstung ins Boot. Unser Auftrag: Steine zählen, Proben nehmen, eine Sedimentbestimmung vornehmen und den Bewuchs dokumentieren. Wir waren zu viert. Sabina und Jens1 gingen zuerst ins Wasser, Jens2 war der Einsatzleiter. Als Sicherungstaucher musste ich in voller Montur auf dem Boot sitzen. Der Fahrtwind fehlte jetzt, die Sonne brütete. Jens2 schälte sich halb aus seinem Anzug, trug Sonnenmilch auf, setzte seine Sonnenbrille auf, stellte sein Handy laut und legte sich so ins Boot, dass er noch gut sehen konnte.

Ich musste lachen. „Apokalypse Now“ auf der Ostsee. Ich schaufelte mir ab und an eine Ladung Wasser ins Gesicht, bis die beiden wieder hochkamen. Wir holten Sabina und die an Hebesäcken hängenden Proben an Bord. Ich verabredete mich mit Jens1 unten am Grundgewicht.

Dies war mein erster Alleintauchgang am Blubb, einer langen, wurstförmigen Boje. Nach dem Abtauchen fand ich am Grund keinen Jens1. Die Sicht war schlecht, sie betrug etwa einen halben Meter. Auf halber Strecke zu meinem Arbeitsplatz tauchte aus dem Nichts Jens1 auf. Er wedelte mit seinem Tauchermesser. Etwas näher an ihn herangetaucht sah ich, dass auf seinem Messer eine dicke Scholle steckte. Sicher wollte er für das prächtige, aufgespießte Schollenmädchen gelobt werden, aber ich bin Vegetarier. Also kein Lob. An meinem Bestimmungsort angelangt, löste ich die Kamera vom Karabiner und flog, so gut es ging die Strömung ausgleichend, über meinen Quadranten, um Fotos zu machen. Eine Bahn hin, wenden, eine Bahn zurück, wenden und so weiter.

Zum Schluss widmete ich mich einer Bewuchsplatte, die noch ziemlich nackt war, von ein paar kleinen Algen und Seesternen einmal abgesehen. Seesterne sind widerliche Tiere. Wenn sie Hunger bekommen, setzen sie sich auf ihre Lieblingsspeise, die Miesmuschel. Die schließt sich bei Gefahr, muss sich aber nach einer Weile wieder öffnen, um frisches Wasser zum Atmen einzulassen. Wenn sie das tut, stülpt der Seestern seinen Magen in die Muschel hinein und verdaut sie lebend in ihrer eigenen Schale. Ähnlich den Facehuggern in Ridley Scotts „Alien“. Man stelle sich vor, wir Menschen täten das mit den Kühen auf der Weide.

Die Arbeit war erledigt, ich hatte noch neunzig Bar Luft und ein bisschen Zeit. Die Kamera kam wieder an ihren Karabiner. Da fiel mein Blick auf eine Liocarinus holsatus, eine glatte Ruderkrabbe, nicht ganz ausgewachsen, die hinter einem Stein hervorkam, um mich besser sehen zu können. Mein linker Fuß musste arbeiten, um die Strömung halbwegs auszugleichen und die Position zu halten. Ich schwebte 20 cm über dem Boden. Die Krabbe starrte mich regungslos verharrend an. Auge in Auge. Schwebeteilchen strömten an uns vorbei. Hier unten, in neun Metern Tiefe, dehnte sich die Zeit. Sie schien durch mich hindurchzufließen. Zwischen Sediment, dem jahrhundertelang von den Wassermassen geschliffenen und bewegten Gestein, und der kleinen Krabbe als direktem Nachfahren der Saurier offenbarte mir dieser Moment die Union der Zeiten, Schicksale und Elemente. Bis die Krabbe genug hatte vom Sich-gegenseitig-Anstarren, ihre Scheren hob, auf mich zustürmte und direkt vor mir innehielt. Was für ein mutiges Tier. Ich richtete einen Finger auf sie. Das genügte, um sie, eine Wolke aus aufgewirbeltem Sand hinterlassend, hinter ihren Stein zurückzuscheuchen. Was für ein kluges Tier.

Der Tag sollte noch lang werden. Zum Mittagessen auf dem Kutter hatte der von allen gefürchtete Schiffskoch Berge von Fleisch und die Scholle von Jens1 zubereitet, den Vegetariern blieb nur der Blumenkohl. Danach folgten weitere Tauchgänge bis zur Dämmerung. Die Kapitän beschloss, dass es zu spät sei, um in den Hafen zurückzukehren, und so blieben wir vor Ort. Erschöpft setzten wir uns bei Sonnenuntergang zu einem gemeinsamen Bier aufs Oberdeck und legten die Füße hoch. Sabina erzählte, dass sie zur Gay pride nach Berlin fahren wolle. Es war sehr angenehm, nicht nur in Gesellschaft der sonst eher testosterongesteuerten Kollegen zu sein. Ich fragte Jens1 nach seiner Scholle. „Lecker. Sie sind sehr leicht zu stechen. Die schwimmen nicht weg, wenn sie sich bedroht fühlen, sondern tarnen sich und bleiben ganz ruhig liegen. Du musst sie mit dem Messer direkt hinter den Augen erwischen und die Mittelgräte durchtrennen, dann sind sie sofort tot. Karpfen fangen ist schwieriger.“ „Hast du noch deine Ausrüstung?“, fragte Jens2. Jens1 war in einer wichtigen Phase seines Lebens fanatischer Karpfenfischer gewesen. Er hatte Zehntausende Euro in seine Ausrüstung investiert, deren erstaunlichster Bestandteil aus einem Baitboat bestand; einem ferngesteuerten Futterboot, das der Karpfenangler mit dem Köder belädt, um ihn an einer geeigneten Stelle auszubringen.

Ich lernte, dass es den richtigen Karpfenanglern gar nicht um das Essen der Fische ging. Wenn der Fisch gefangen ist, wird er nicht getötet, sondern gewogen, vermessen und fotografiert. Danach versorgt der Fänger die Wunde, die der Angelhaken gerissen hat, mit Klinik, einer Wundsalbe, und lässt ihn wieder frei. Den besonders widerstandsfähigen Tieren geben sie Namen. Als Benson in Großbritannien starb, ein 30-Kilo-Karpfen, der in 25 Jahren 63-mal gefangen worden war, versammelte sich die Karpfenfischergemeinde zu einer großen Trauerfeier. Ich bekam Phantomschmerzen im Gaumen. Als Jens1 mein Gesicht sah, gab er sich sinnlos Mühe, mir zu erklären, dass der Haken den Karpfen keinen Schmerz bereitet. Er sprach langsam, wir waren alle sehr müde geworden und zogen uns nach dem letzten Bier zurück in unsere Kajüten. Ich fühlte mich in der sargähnlichen Enge meiner Koje ganz wohl. Das Meer leckte am Bullauge, das Rollen des Schiffs und die vibrierenden Laufgeräusche des Schiffsgenerators tuckerten mich in den Schlaf.