Eurovision am Dnipro, Folge 6: Der mit dem Kopf rollt

Der Italiener Francesco Gabbani gilt als Favorit für den Sieg beim ESC in Kiew. Auch der Portugiese Salvador Sobral hat gute Chancen.

Ein Mann, Salvador Sobral

Salvador Sobral haucht „Amar pelos dois“ Foto: Reuters

KIEW taz | Es zeichnet sich in Kiew beim ESC eine Sensation ab: Wochenlang, seit seinem Sieg beim italienischen San-Remo-Festival, liegt dessen Sieger Francesco Gabbani in den Prognosen haushoch vorne. Wer, wenn nicht dieser sympathische Italiener mit seinem noch sympathischeren Sommerhit sollte das Eurovisionsfestival gewinnen?

Diesen Konkurrenten gibt es seit dem ersten Semifinale, und das ist der Portugiese Salvador Sobral. 27 Jahre, Musiker wie seine Schwester Luisa, die ihm das Lied dichtete: „Amar pelos dois“ ist ein atmosphärisches Sprechen, ein angejazztes Stück, das Salvador Sobral ins Mikrofon mehr haucht als laut singt.

Der Text wird für den Kiewer Eurovisionszweck nicht anglisiert, es bleibt dabei: Portugiesische Lyrik soll klingen, wie sie eben im Original klingt. (Wobei beide Geschwister nichts gegen Amerika haben, die USA zumal, sie haben dort studiert, um das kulturell enge Portugal mal hinter sich zulassen).

Das Lied ist das ästhetisch anspruchsvollste ESC-Lied seit Jahren, eigentlich ein Stück, das von Sendern wie Deutschlandradio ausgesucht wird, um sich vom Popmainstream bewusst abzuheben: eine Liebeserklärung an eine Verflossene, der der Sänger schwört, sie weiter zu lieben, weil er ein Herz für zwei habe. Oder so ähnlich – es hört sich jedenfalls innig an, und das ist, wenn ein Sänger das von der Bühne herunter zu transportieren weiß, ein kostbares Gut.

Kein Bühnennebel, keine Pyroflocken von der Hallendecke, keine nervös stimmende Lichtregie, auch kein Chor zur vokalisen Verstärkung

Die Performance, man könnte sagen: die Dramaturgie des portugiesischen ESC-Stücks, ist karger als es ein ESC eigentlich erlaubt. Kein Bühnennebel, keine Pyroflocken von der Hallendecke, keine nervös stimmende Lichtregie, auch kein Chor zur vokalisen Verstärkung. Sobral rollt zum Gesang seinen Kopf; verdreht wie irre die Augen – als sei's die Premiere eines Gefühlsausbruchs, spontan und ergreifend.

Zwei alternierende ESC-Konzepte

Ist es natürlich nicht. Alles Inszenierung, nur ist es bei Sobral das ästhetische Gegenteil zum Italiener, der in der Tat ein sensationelles Italo-Pop-Stück in die Arena tragen wird: Das ist so schön und frisch wie einst Gianna Nannini oder Adriano Celentano.

Es sind mithin zwei alternierende ESC-Konzepte, die um den Sieg ringen. Hier der Smash-Hit-Repräsentant, der Perfekte, der Sichere, der Fitte, der Schöne, der Smarte. Dort der Melancholische, Lebensverehrte, um einen Platz in der Welt Ringende – um den Nachdenklichen, der grübelt und, hier stimmt das Wort wirklich einmal, verstört auf alles Mögliche reagiert.

In den Wettbüros liegt Portugal inzwischen nur noch knapp hinter Italien. (Wobei, wie gesagt, mit dieser Skizze der Italiener nicht gedisst sei – er ist der Andere, der womöglich seine zeitgenössische Wachheit nur nicht so unbefangen zeigt.)

Salvador Sobral, der den Einzug ins Finale unter großem Beifall des Kiewer Hallenpublikums schaffte, profilierte sich politisch auf der Pressekonferenz auf der Höhe der (europäischen) Zeit: Er trug dort ein T-Shirt als Statement: „S.O.S. – Refugees“. Das wirkte nicht der Botschaft wegen sympathisch, sondern weil sein textiles Statement ihn so normal zeichnete – als spränge er demnächst ins nächste Hipster-Café, Ginger-Limonen-Saft bestellend.

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