taz-Serie Marzahn-Hellersdorf: Einmal Berlin-Marzahn und zurück

Unsere Autorin war noch nie in Marzahn – weil es keinen Grund dafür gab hinzufahren, aber auch aus Angst vor rassistischen Angriffen. Ein Versuch.

Blick auf einem Platz vor Hochhäusern - Leute sitzen auf Stufen

Auch wer hier noch nie war, hat ein Bild im Kopf: Blick auf Marzahn vom Einkaufszentrum Eastgate Foto: Sebastian Wells

Es gibt Orte, an denen man nie war, vielleicht einfach, weil es dort nichts gibt, was man sehen müsste, die aber eben dadurch, dass man noch nie dort war, aus ihrer Bedeutungslosigkeit herauswachsen. Für mich ist Marzahn so ein Ort, ein solcher, von dem ich vermute, ich müsste dort Angst haben um meine körperliche Unversehrtheit. In englischsprachigen Reiseführern wird nichtweißen Personen davon abgeraten, in Berlin in östliche Randbezirke wie Marzahn-Hellersdorf zu fahren. Bei der Abgeordnetenhauswahl im letzten September konnte die AfD hier 23 Prozent und zwei Direktmandate holen. Überhaupt gilt Marzahn schon seit den Neunzigern als Neonazihochburg.

Laut dem Berliner Register zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Gewalt wurden 2016 in Marzahn-Hellersdorf 150 rassistisch motivierte Vorfälle registriert, davon 44 Angriffe. Das ist wie schon in den Jahren zuvor mehr als irgendwo sonst in Berlin, und die Dunkelziffer wird höher liegen. Trotzdem: Statistisch gesehen ist es unwahrscheinlich, bei einem kurzen Aufenthalt Opfer einer rechten Gewalttat zu werden. Marzahn-Hellersdorf, ein Bezirk, in dem 261.954 Menschen wohnen, kann nicht durch und durch rechts sein. Aber wenn ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin, hilft mir die Statistik auch nicht weiter.

Früher Traum vieler junger Familien in der DDR, durchlebte Marzahn-Hellersdorf in den ersten Jahren nach der Wende eine beispiellose Abwertung. „Lieber ’nen Zahn ziehen als nach Marzahn ziehen“, sagte man in Berlin jahrelang.

Heute ziehen so viele Menschen in den Bezirk wie seit DDR-Zeiten nicht mehr. Darunter sind Menschen, die die Mieten in der Innenstadt nicht mehr bezahlen können und in den berüchtigten Plattenbausiedlungen landen. Und solche, die sich endlich ein Einfamilienhaus in den beschaulichen Ortsteilen am Stadtrand leisten wollen. Der Bezirk verändert sich, doch nicht jedes Negativklischee ist veraltet: Bei der letzten Berlinwahl bekam die AfD nirgendwo so viele Stimmen wie hier.

Seit April bringt die Internationale Gartenausstellung Besucher aus aller Welt nach Marzahn – Zeit für die taz, den Wandel im Bezirk mit einer eigenen Serie unter die Lupe zu nehmen. (taz)

Also: Was passiert, wenn ich drei Stunden durch Marzahn laufe?

Ich fahre gegen 14 Uhr mit der U5 in Richtung Bahnhof Kienberg – Gärten der Welt, dort, wo seit dem 13. April die Internationale Gartenschau zu sehen ist. Aber eine Station vorher, Kaulsdorf Nord, ist Schluss. Ich schaue mich etwas verwirrt um. Ein Mann, vielleicht um die 50, kommt auf mich zu, lächelt mich an und sagt ganz langsam auf Englisch: „Next train, five minutes.“ Er hält mir die Hand vor die Nase und spreizt alle fünf Finger auseinander. Ich lächle, lasse ihn in dem Glauben, ich könne kein Deutsch, und steige fünf Minuten später in die Bahn ein.

14.15 Uhr U-Bahnhof Kienberg: Ich schlängele mich auf der Treppe an einer Gruppe Kinder vorbei, draußen ist der Himmel bedeckt. Links erhebt sich der grüne Kienberg, an dem Seilbahnen die IGA-Besucher auf den Gipfel bringen. Auf dem Weg dorthin sieht alles schick aus, saubere Bürgersteige mit Beeten an den Seiten, gelbe Stiefmütterchen.

Alle paar Meter wehen Fahnen, auf denen Werbung für den Bezirk gemacht wird: Ein blondes Mädchen mit rosa T-Shirt läuft darauf lachend über eine Blumenwiese. Darüber steht: Typisch Marzahn-Hellersdorf. Typisch Marzahn?

In meiner Vorstellung ist das ein Meer aus hohen Häusern, Menschen mit verbrauchten Gesichtern und ja, vor allem Nazis. Nun sind die Häuser gar nicht so hoch, weil viele nach der Wende rückgebaut wurden. Und die Menschen? Ein Mann mit Rollator, Familien mit Kindern. Was habe ich erwartet?

Es wird nichts passieren, hatte mir E. noch in der Redaktion gesagt, bevor ich losgefahren bin. Es wird nichts passieren, hat mir kurz darauf auch V. gesagt, der dann noch hinzufügte, „Aber pass auf.“ V. kennt es auch, hab ich da gedacht. Dieses Gefühl, das, wenn ich in bestimmte Gegenden fahre, immer mitschwingt, mal lauter, mal leiser, das aber, egal wie sicher ich mich fühle, niemals ganz weg ist, weil mein ganzer Körper unterbewusst, wie jetzt auch, in Alarmbereitschaft steht.

Ich möchte zur Carola-Neher-Straße, rechts vom U-Bahnhof, keine zehn Straßenzüge entfernt. Seit August 2013 ist dort eine Flüchtlingsnotunterkunft, gegen die Neonazis und Anwohner immer wieder mobilisiert haben. Ich laufe vorbei an einer Cocktailbar, an deren Glasscheiben Bilder von Palmen kleben. Sehnen sich die Menschen hier an ferne Orte?

Ich beginne, alle zu scannen, die mir entgegenkommen. Ich schaue Männern auf ihre Köpfe, auf die Kleidung, achte auf rechte Symbole oder Tätowierungen, schaue in die Autos, die an mir vorbeirauschen. Nichts. Beim Blick über die bunten Fassaden der sechsstöckigen Häuser sehe ich keine rassistischen Schmierereien, keine Hakenkreuze, auch Deutschlandfahnen sind hier kaum zu sehen. Das Einzige, was mir auffällt, sind Gartenzwerge an den Balkonen und viele Frauen mit rot gefärbten Haaren.

Feindliche Blicke

Es ist grüner, als ich vermutet habe. Zwei verschleierte Frauen schieben langsam einen Buggy vor sich her, als ich vor einer bunt bemalten Wand nahe der Flüchtlingsunterkunft stehe, ab und zu fahren Kinder auf Fahrrädern an mir vorbei, eine Frau geht mit einer Dogge spazieren. Die Sonne schiebt sich zwischen den Wolken hervor und wirft ein warmes Licht zwischen die Häuser, ich entferne mich wieder von der Notunterkunft, und je weiter ich treibe, desto mehr Vogelgezwitscher höre ich, vieles erinnert mich an meine Kindheit, weil ich selbst in einer Hochhausgegend aufgewachsen bin. Nur die Namen auf den Klingelschildern lauten hier anders: Scholz, Wegener, Weigel. Der Ausländeranteil in Marzahn-Hellersdorf ist einer der niedrigsten in Berlin.

In meiner ersten Stunde Marzahn begegnet mir nichts, was mir Angst macht. Um 14.53 Uhr schreibe ich meiner Kollegin M., die oft über Neonaziaktivitäten in der Stadt berichtet, eine SMS: „Sag mal, wo sollen hier die Nazis sein? Ich sehe keine Glatzen oder sonstige furchteinflößende Menschen.“

Dann möchte ich mit dem Bus 197 zum Brodowiner Ring fahren. Vor gut 25 Jahren, am 24. April 1992, wurde dort Nguyen Văn Tú, der 1987 aus Vietnam als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen ist, von einem Neonazi erstochen. Drei Männer, um die 30, die mir im Bus gegenübersitzen, mustern mich. Mich überkommt ein ungutes Gefühl, ich gucke mich instinktiv um, bin froh, dass hier genug Menschen sitzen, dass es draußen hell ist. Ich bin mir nicht sicher, was mich so sicher macht, dass das Rechte sind, die mir da gegenübersitzen. Vermutlich kommen da Erfahrungswerte zusammen, die sich nicht in Worte fassen lassen. Die Männer sind alle schwarz gekleidet und tragen Turnschuhe. Der eine hat längere blonde zurückgegelte Haare, die Seiten sind abrasiert, die anderen beiden haben kurze braune Haare, die unter Caps verschwinden. Es sind keine Klischee-Nazis mit Glatze und Springerstiefeln. Es sind nur die Blicke, die mich beklemmen. Wie beschreibt man einen feindlichen Blick?

Ich schaue aus dem Fenster, weil ich nicht provozieren will und der Bus fährt dahin, wo die Häuser höher werden, und der Regen, der jetzt einsetzt, reicht, um Marzahn plötzlich trist wirken zu lassen. An einer Bushaltestelle steigt eine Frau ein, die sich ihre kurzen Haare in Deutschlandfarben gefärbt hat. Hinten schwarz, Mitte rot, vorne blond. Sie setzt sich.

An der nächsten Station muss ich raus.

Ich springe erst im letzten Moment auf, weil ich fürchte, dass mir die drei Männer im Bus sonst folgen könnten. Machen sie nicht. Ich stehe im Regen, als ich sie noch mal durch die Glasscheibe angucke. Sie starren mich an. Schnell drehe ich mich um, mein Herz pocht, ich laufe an einem Blumenstand vorbei, da streift mich ein Mann, den ich zuvor nicht gesehen habe, er hat schlechte Zähne, ist bis zum Hals tätowiert und für einen kurzen Moment ist er so nah an mir, dass ich seine Alkoholfahne riechen kann. Ich flüchte reflexartig, neben ihm war eine Frau, mehr kann ich nicht sagen, ich weiß nicht, wie groß der Mann war, was er anhatte, ob er ein Nazi war, ich will einfach weg, egal, egal, in welche Richtung. Mein Puls steigt mir bis zum Hals. Das ist das Beschissene, wenn du in solche Gegenden fährst: Von jetzt auf gleich hast du Angst um dein Leben. Es ist nichts passiert, niemand hat mich bedroht, niemand hat etwas Böses zu mir gesagt, aber ich frage mich in diesem Moment, ob es eine gute Idee war, allein nach Marzahn zu fahren. Ich versuche mich selbst zu beruhigen.

Wie war das noch mal mit der Statistik?

Es erleichtert mich, als ich ein älteres Pärchen sehe, vermutlich vietnamesisch oder vietnamesischstämmig. Sie kommen mir mit vollen Plastiktüten in den Händen entgegen, mein Kopf rattert: Sie waren einkaufen, sie wohnen hier, wenn sie hier wohnen, kann es hier nicht so schlimm sein. Denkpause. Oder? Ich frage sie nach dem Weg zum Brodowiner Ring und ich hätte auch gern gefragt, ob sie die Geschichte von Nguyen Văn Tú kennen, aber sie sprechen kein Deutsch und kein Englisch. Sie weisen in eine Richtung, die, wie ich später merke, die falsche ist, und sagen „Marzahn, Marzahn“, bevor sie mit ihren Plastiktüten irgendwo zwischen den elfstöckigen Häusern verschwinden.

Am Brodowiner Ring angekommen, ist mein Puls wieder ruhig. Ich sehe Häuser, große Wiesen, einen Spielplatz mit bunten Holzgeräten. Kinder laufen an mir vorbei, ein vielleicht achtjähriges Mädchen mit sorgsam geflochtenen Zöpfen ruft zu ihrem Freund, der hinter ihr herläuft: „Fang mich doch, du Fotze!“ Sie lacht.

In der Nazikneipe

Auf einem der Balkone sehe ich ein rauchendes Pärchen. Unter einem anderen Balkon im Erdgeschoss steht ein schwarz vermummter Mann, nur seine Augen sind durch einen Schlitz zu sehen. Neben ihm steht eine große Plastiktüte, niemand stört sich an ihm. Vermutlich verkauft er Zigaretten, erst jetzt fällt mir auf, dass die Zigarettenverkäufer aus den Innenstadtbezirken verschwunden sind.

Ich gucke mich genauer um, ich finde nichts, was an Nguyen Văn Tú erinnert, der hier vor 25 von einem Neonazi erstochen wurde. Keine Gedenktafel. Wie viel Hass muss in einem Menschen sein, dass man ein Messer in den Körper eines fremden Menschen rammt, nur weil er so aussieht, wie er aussieht?

Die Sonne scheint wieder, aber mir ist kalt. Es ist 16.22 Uhr, ich bin seit zwei Stunden in Marzahn. Meine Kollegin M. hat inzwischen auf die SMS, dass ich keine Nazis sehe, geantwortet: „Haha, umso besser! Am U-Bahnhof Cottbusser Platz gibt es den Imbiss Viwa, der gilt als Nazitreffpunkt.“ Ich überlege kurz, ob es irre ist, aber beschließe, dort hinzufahren.

Im Bus, in der U-Bahn spulen sich in meinem Kopf alle Begegnungen ab, die ich mit Rechten hatte. Am U-Bahnhof Cottbusser Platz steige ich aus, laufe den mit Neonröhren beleuchteten Tunnel entlang, die Fliesen an den Wänden haben verschiedene Töne, Beige, Hellbraun, Braun.

Oben muss ich nicht lange suchen, Biergarten Viwa steht auf einem weißen Eingangsbogen, direkt gegenüber von einer Dönerbude. Draußen blühen Blumen in Töpfen, ich werfe einen Blick in die geöffnete Tür, im schummrigen Licht sitzen drei Männer mit Glatzen und trinken Bier. Da sind sie, die Bilderbuchnazis.

Ich bin nervös. Wer Nazis in Marzahn-Hellersdorf sucht, kann sie auch finden. Ich versuche, so rational es geht, darüber nachzudenken, was passieren könnte, wenn ich reingehe. Vielleicht bedienen sie mich nicht, vielleicht beschimpfen sie mich, einen körperlichen Angriff halte ich für unwahrscheinlich.

Ich gehe rein. Schnellscan: ein Mann mit Glatze am Spielautomaten, drei Männer mit Glatze und Bierkrügen am Tisch, ein Mann mit Haaren an der Theke und eine Frau mit blondierten Haaren dahinter. Es ist verraucht, auf einem Tisch liegen leer getrunkene Kümmerlinge. Ich bin so aufgeregt, ich kann im Nachhinein nicht sagen, ob Musik lief. Ich bestelle mir bei der Tresenfrau mit den tiefen Augenringen einen Kaffee zum Mitnehmen. Sie greift zu einer Kanne Filterkaffee, stellt mir den Becher lautlos hin. Ich leg einen Euro auf den Tresen. Der Kaffee ist so dünn, dass der Boden des Bechers durchschimmert. In der Spüle steht eine schwarz-rot-goldene Tasse. Keiner sagt irgendetwas. Ich frage den Mann neben mir, ob er mir die Milch reicht. Er sagt: „Sehr gerne.“ Und nun? Ich trau mich kaum, mich umzudrehen. Starren mir die drei Männer am Tisch auf den Rücken? Sind alle perplex, weil ich hier bin? Bin ich eine Provokation? Hören sie meinen Herzschlag?

Ich dreh mich um, und einer der Männer am Tisch guckt mich an mit einem durchdringenden Blick. Ich versuche kurz standzuhalten, blaue Augen, ein Gesicht voller Furchen, mein Herz rast, ich will raus, schnell. Jetzt dreh ich mich nicht mehr um. Den Kaffee möchte ich wegwerfen. Es reicht mir mit Marzahn. Aber ich muss fast lachen, als ich lese, was am Ausgangsbogen der Nazikneipe steht: „Tschüß, bis zum nächsten Mal“.

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