Verfassungsbruch im Gerichtssaal

VenezuelaImmer mehr Teilnehmer an Demonstrationen werden von Militärgerichten abgeurteilt

Proteste am Samstag in Caracas Foto: Carlos Garcia Rawlins/reuters

BUENOS AIRES taz | Venezuela wird in diesen Wochen von einer beispiellosen Welle der Gewalt erschüttert. Bei den Protesten, die Anfang April begannen, sind bisher 55 Menschen meist durch Schusswaffen ums Leben gekommen. Neun Personen wurden von den staatlichen Sicherheitskräften getötet. Ein Unteroffizier der Nationalgarde verlor sein Leben. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisationen Foro Penal Venezolano wurden 2.815 Personen festgenommen, von denen 1.240 noch immer in Haft sind.

Doch statt die Inhaftierten einem zivilen Haftrichter vorzuführen, werden immer mehr Personen der Militärjustiz zugeführt – mittlerweile 341 Personen. „Das ist eine Verletzung der Menschenrechte, allein aufgrund der Tatsache, dass Zivilisten, die keine militärische Straftat begangen haben, vor Militärgerichte kommen“, sagt der venezolanische Rechtsanwalt Keymer Ávila, der am Strafrechtswissenschaftlichen Institut der Universidad Central de Venezuela in Caracas lehrt. „Solche Prozesse sind zudem verfassungswidrig. Das wurde durch nationale Urteile als auch durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs bestätigt.“

Zuständig wäre eigentlich das Öffentliche Ministerium, das Ministerio Público. Der autonomen Behörde steht seit 2007 die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega vor. Ihre regierungskritische Haltung ist spätestens seit ihrer öffentlichen Ablehnung der Entmachtung des Parlaments durch den Obersten Gerichtshof bekannt. Das Ministerio Público tritt nicht nur als Ankläger auf, sondern leitet auch die entsprechenden Untersuchungen.

Doch allem Anschein nach traut die Regierung der zivilen Justiz nicht mehr über den Weg. Immer weniger Staatsanwälte des Ministerio Público seien dazu bereit, die willkürlichen Festnahmen von Demonstrierenden durch Polizei und Nationalgarde abzusegnen, so Ávila.

Zudem hat sich das Ministerium bereits mehrfach öffentlich gegen die Militärprozesse ausgesprochen. Erst kürzlich forderte es ein Gericht im Bundesstaat Zulia auf, 14 Personen, denen Sachbeschädigungen im örtlichen Rathaus und auf einem öffentlichen Platz vorgeworfen werden, der zivilen Gerichtsbarkeit zu überantworten und nicht der militärischen.

Von 2.815 festgenommenen Personensind immer noch 1.240 in Haft

Friedliches Demonstrieren ist ein Grundrecht, das die venezolanische Verfassung garantiert. In Artikel 68 ist festgelegt, dass alle „Bürger und Bürgerinnen das Recht haben, friedlich und ohne Waffen zu demonstrieren“. „Das Recht auf Demonstration ist also nicht absolut. Die Bedingungen sind: friedlich und ohne Waffen. Straßenbarrikaden, Sachbeschädigungen, Plünderungen, Gebrauch gefährlicher Substanzen können konkrete Straftaten sein“. so der Rechtsanwalt.

Als Rechtfertigung für den Einsatz der Militärgerichte dient das Konzept der „Inneren Ordnung“, das im Kriegsfall zum Tragen kommt und bei dem das Hoheitsgebiet vor inneren Feinden geschützt werden muss, die gegen das politische System vorgehen. In diesem Rahmen ist jede Aktion, die das System infrage stellt oder einem Risiko aussetzt, als Bedrohung zu betrachten, gegen die konsequent gehandelt werden muss. Mit dieser Logik können Proteste als „Bedrohung“ und die protestierenden Bürger als „Feinde“ definiert werden. Jürgen Vogt