Musikfestival „Sakifo“ auf La Réunion: Beats aus Zuckerrohren

Die Musik von La Réunion ist eng mit Kolonialismus und Sklaverei verbunden. Lange wurde sie nur im Geheimen gespielt. Ein Festival würdigt sie.

Ein Vulkan, auf dessen Kratern Menschen laufen

Die ghanaische Künstlerin Jojo Abot bei ihrem Festival-Auftritt Foto: Frédérique Gaumet

Zwei Aufziehautos sausen zwischen Füßen umher, wenige Meter entfernt branden Wellen gegen die Hafenanlage der réunionischen Stadt Saint-Pierre. Dazu lässt die Band Ousanasouva entspannte Off-Beats über die Zuschauer wehen. Es ist Sonntagmorgen, eine Uhrzeit, zu der sich in Mitteleuropa niemand aus dem Bett bewegt: Auf La Réunion sind im Rahmen von „Sakifo“, einem dreitägigen Musikfestival kurz vor 10 Uhr an die 3.000 BesucherInnen auf den Beinen.

Am vergangenen Wochenende hat das Festival zum 14. Mal stattgefunden. Das Konzert ist gratis, dazu wird ein Reisgericht für 5 Euro von einer Wohltätigkeitsorganisation angeboten. Ousanasouva sind Lokalmatadore und haben am letzten Festivaltag viele Menschen in den Hafen des Viertels Terre-Sainte gelockt: darunter auch Familien aus der Gegend. Das Festival selbst hat seine Zelte am Strand von Saint-Pierre aufgeschlagen, der Stadt, die als alternatives Zentrum des französischen Überseedépartements im Indischen Ozean gilt.

„Das, was es braucht“, so heißt der Name des Festivals übersetzt. Gebraucht werde „Sakifo“ von allen, sagt Jérôme Galabert, der sich das Festival ausgedacht hat. „Yes, you can“-Spirit habe ihn angetrieben, er wollte zeigen, dass La Réunion ein großes Festival stemmen kann. Es habe auch einen wirtschaftlicher Faktor, Galabert beschäftigt nur lokale Firmen.

Obwohl Réunion weit weg von Kontinentalfrankreich ist, merkt man dann doch die administrative Ordnung der mère patrie: Der nach den Terroranschlägen in Frankreich verhängte Ausnahmezustand gilt auch hier, die Sicherheitsauflagen waren immens. Wie auf den Straßen der französischen Hauptstadt patrouillieren Polizisten mit Maschinengewehren auf dem Festivalgelände.

Fußstampfen als Teil der Perkussion

Die Band Kiltir eröffnet den Indian Ocean Music Market (IOMMA) – eine kurz zuvor stattfindende Veranstaltung auf La Réunion, die regionale Musik stärkt. Die fünf Musiker sind bei ihrem Konzert jede Sekunde in Bewegung. Das Stampfen der Füße ist Teil der Perkussion, die mit Wechselgesängen das Fundament der traditionellen réunionischen Musikrichtung Maloya bildet. „Maloya ist ein Schrei“, erklärt Jeannick Ahrimann von Kiltir: „Maloya kann man nur live erleben. Im Kern der Musik geht es darum, einen Moment zu teilen. Maloya entstand aus dem Bedürfnis sich auszudrücken.“

La Réunion liegt circa 800 Kilometer östlich von Madagaskar. Es gibt keine indigene Bevölkerung, bis zur französischen Besiedelung im 17. Jahrhundert war die Insel unbewohnt. Die Kolonialherren verschleppten Sklaven vor allem aus Mosambik, dem Kongo und Madagaskar. Als die Sklaverei 1848 aufgehoben wurde, kamen sogenannte engagés, billige Arbeitskräfte vom indischen Subkontinent. Heute leben im Schatten eines aktiven Vulkans 800.000 Menschen. Anders als die Nachbarinsel Mauritius, die 1968 unabhängig vom britischen Königreich wurde, gehört La Réunion nach wie vor zu Frankreich – und ist Teil der Europäischen Union.

„In Vielfalt vereint“, der selten gehörte Leitspruch der EU, findet hier anders als in Kontinentaleuropa seine Erfüllung. Von métissage, Vermischung, sprechen viele KünstlerInnen, wenn sie über die Identität der Insel reden. Die meisten verstehen sich nicht als Nachfahren von Ausgebeuteten oder Ausbeutern, sondern als RéunionerInnen – eine Identität, die sich auch durch die vielfältige Musik festschreibt.

Die réunionische Musikrichtung Maloya entstand ursprünglich auf den Plantagen: „Sklaven haben ihre Musik mitgebracht“, sagt Jeannick Ahrimann von Kiltir. „Ein aus Ostafrika stammender Sklave hat einen bestimmten Rhythmus gespielt, ein Madagasse seinen eigenen Rhythmus einfach in diesen integriert.“ Weil ihre Füße in Ketten gelegt waren, entstand ein gemeinsames Metrum – und ein Mittel der Kommunikation.

„Alle Identitäten der Insel stecken auch im Maloya“

Längst ist Maloya kein Ausdrucksmittel der schwarzen Bevölkerung von La Réunion mehr. So divers die Gesellschaft wirkt, so unterschiedlich sind die Bands. Hier leben nicht nur Nachfahren von Sklaven und Engagés, sondern auch von EuropäerInnen, sagt Ahrimann: „Alle Identitäten stecken auch im Maloya.“ Bis in die fünfziger Jahre wurde Maloya im Geheimen gespielt. Erst in den Achtzigern wurde er selbstbewusst als eigene Kunstform propagiert.

Im Zuge dessen entwickelte sich der Stil weiter, wurde von Musikern wie Firmin Viry, Danyèl Waro und Alain Péters in die Welt getragen – und identitätsstiftend für réunionische Kultur. Heute wird der Maloya-Sound, wie ihn Kiltir auf ihrem aktuellen Album „Traditionnel mêm“ spielen, von vielen Bands mit anderen Genres gemischt. Wechselgesänge und tradi­tio­nelle Instrumente bilden auch die Basis des aktuellen Maloya.

Deutschland bewaffnet sich. Seit einigen Jahren kaufen Menschen hierzulande mehr Pistolen, die Schreckschusspatronen, Gas oder echte Munition verschießen. Die taz.am wochenende vom 10./11. Juni hat recherchiert, warum Menschen schießen wollen. Und: In Großbritannien wurde gewählt. Wie geht Theresa May mit ihrer Niederlage um und was heißt das für Europa? Außerdem waren wir beim Midburn-Festival in der israelischen Wüste und feiern die Stachelbeere. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Immer wieder zu hören ist der Kayamb, ein Idiofon aus getrocknetem Schilf- und Zuckerrohr, das mit Körnern gefüllt ist. Er erzeugt ein rauschendes Geräusch, kann aber auch rhythmisch eingesetzt werden. Und der Roulèr, eine Basstrommel, deren Fell ursprünglich auf leere Fässer gespannt wurde, womit beide Instrumente die Geschichte der Insel präsent halten.

Viele Bands singen auf Französisch und auf Kreol, der Alltagssprache auf „La Rényon“. Wie andere Kreolsprachen etwa auf Mauritius oder Haiti basiert es auf dem Kontakt mehrerer Sprachen. „Heute ist Maloya befreit, er hat das Recht auf die Bühne zu steigen. Das war nicht immer so.“ Trotz der langen Tradition sei der Maloya, wie es ihn heute gibt, junge Musik. „On est mélangé“, die Musiker seien gemischt, sagt Carlo de Sacco, Sänger von Grèn Sémé, über seine Band. Ihren Biografien folgend kommen in ihrer Musik verschiedene Einflüsse zusammen.

Schmutzige Beats

Ähnlich melangiert ist Séga, ein Stil, der sowohl auf Mauritius als auch auf La Réunion gespielt wird und melodiöser als Maloya anmutet. Davon abgeleitet wird „Seggae“, eine Verschmelzung mit Reggae, deren stolpernde Off-Beats beim Konzert mauritische Band Mauravann mitreißend klingen. Sängerin Linzy Bacbotte gehört zu den Stars der Nachbarinsel.

Bacbotte und ihre Künstlerkolleginnen beeindrucken beim „Sakifo“-Festival am meisten: Jojo Abot aus Ghana wird zur weltlichen Predigerin, hypnotische Beats werden abgefahren und mit wenigen Klängen einer elektronischen Gitarre ergänzt. Sie wickeln sich um Texte in Abots Muttersprache Ewe. Dazu verweist die Künstlerin mit einer visuellen Show auf ihre Wurzeln zwischen Accra und New York. „To Li“, „Bullshit“, lässt sie das Publikum singen.

An gleicher Stelle war auch Kaloune zu erleben, eine junge réunionische Künstlerin, die springt, tanzt, lacht und auf schmutzige Beats über weibliche Sexualität singt. Einer Generation vor diesen beiden Künstlerinnen gehört Nathalie Natiembé an. Sie ist neben Christine Salem eine der großen Musikerinnen der Insel.

Die Wurzel ihrer Musik bildet der Maloya, doch mäandern ihre Chansons auch zwischen Punk und Soul. Am Sonntagabend gibt ihr ein forscher E-Bass ein dubbiges Bett, das im genau richtigen Moment um etwas Echo auf der rauen Stimme der Sängerin ergänzt wird. Aus dem Sound einer Plastiktüte, die die Musikerin über einem Mi­kro­fon reibt, macht sie einen weiteren Klanggeber ihrer druckvollen Performance, bei der sie sich barfuß über die Bühne bewegt.

Kontinentaleuropa sollte endlich seine Ohren öffnen

Für das akustische Kontrastprogramm dieser punkigen Erscheinung sorgen der in Köln geborene Sänger Patrice und Headliner Damien Marley. Der südafrikanische Musiker Bongeziwe Mabandla fügt dem Festival fragile Songs aus Gitarre, Schlagzeug und elektronischen Effekten mit Texten auf seiner Muttersprache Xhosa hinzu und holt damit seinen Anspruch ein, die Vielfalt der südafrikanischen Musikszene zu zeigen.

Der Ethnologe Carsten Wergin bezeichnet die réunionische Musik als eine Musik im „Zwischen“. La Réunion erzeugt eine Musik, die die Identität einer Gesellschaft abbildet, wie sie zwischen Vulkan und Strand, zwischen Afrika und Europa, zwischen Abhängigkeit und Individualismus fluoresziert – eindrucksvolle Klänge, für die nicht nur Kontinentaleuropa seine Ohren endlich öffnen muss.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.