Linke in Frankreich vor der Wahl: „Wir machen weiter“

Das Glück der Linken, in Frankreich liegt es auf der Straße. Nur wohin diese Straße führt, weiß niemand. Ein Spaziergang durch Marseille.

Frauen mit Kopftüchern sitzen unter einem Banner, das für die 6. Republik wirbt

Anhänger Melenchons hängen Werbung für ihren Kandidaten in Marseille Foto: dpa

MARSEILLE taz | Die Canabière teilt die Stadt wie eine von Messern geschlagene. Im Norden die cartier populaire, die Siedlungen der Arbeiterschaft, im Süden die Viertel der Bürgerlichen, die Einfamilienhäuser, ruhige Wohngegenden. Und in der Mitte die Innenstadt.

Die Viertel rund um die Canebière sind kaum gentrifiziert, bisher hat Marseilles Innenstadt dem Verdrängungsdruck standgehalten. Um den Bahnhof herum – in bester Lage – finden sich nach wie vor Hotelzimmer für 30 Euro. Bett, Tisch, Fernseher, gefliester Fußboden, Schimmel hinter dem Waschbecken.

Dass Wahlkampf ist merkt man hier nicht. Hin und wieder stehen an Straßenecken Menschen, die Flyer verteilen: Zeugen Jehovas, Amnesty International. Nur am Eingang zum Markt von Noailles hat sich ein einzelner Kandidat eingefunden. Seine zwei Helfer sind die selben, die den Hintergrund seines Wahlplakates zieren. Erst vor der Bourse, in der Nähe des Alten Hafens, hängen ein paar miserabel fotografierte Wahlwerbungen an einem Zaun.

Im Vilain Petit Canard, einem Irish Pub auf halber Strecke der Canebière, ist am Abend offenes Mikro. Es werden alte Chansons gespielt, das Publikum ist zwischen 50 und 70 Jahren alt, vielleicht zwanzig Leute sind da. Drei, vier Junge gesellen sich dazu und spielen Selbstgeschriebenes. Es ist zehn Uhr, die Sonne geht unter, die Cafés und Restaurants in der Umgebung füllen sich nach und nach; es ist Ramadan.

„Diese Scheiße hier“

Auf der Bühne singt ein Mitfünziger, man solle wieder mehr Französisch sprechen, das Englische metastasiere in die Muttersprache hinein; am Tisch links der Bühne essen zwei Frauen ihr mitgebrachtes Mc Donalds-Menü. „Foutez l'Anglais hors de France!“ ruft der Mann vorne, „schmeißt das Englische aus Frankreich heraus“. Alle applaudieren.

Draußen plätschert immer wieder Wasser aus einem abgebrochenen Abflussrohr. Ein Mann auf einem Fahrrad hält an. „Sehen Sie sich das mal an“, sagt er. „Ich bin gelernter Klempner, und arbeitslos, und dann diese Scheiße hier.“ Da es seit Tagen nicht geregnet hat, sind die Leitungen wohl falsch verlegt worden. „Aber uns sagt man, dass es keine Jobs gibt!“

Seit einem Jahr hat er keine Arbeit mehr. Davor war er immer wieder prekär beschäftigt, aber das hörte schlagartig auf. Er sei 39, und jetzt, nach 12 Monaten Jobsuche, denke er manchmal, er sei alt. Zu alt. Dass es jetzt vorbei sei. Von 7000 Euro im Jahr lebt er, sagt er, er mache nichts mehr, was Geld kostet. Nur noch Fahrradfahren, schwimmen gehen, spazieren. „Armut hält einen fit.“

Besserung sieht er nicht. Er unterstützt Mélenchon. Auf der großen Kundgebung am alten Hafen, da war er auch. Er hat hin und wieder Flugblätter verteilt, Stände betreut. Nur wählen gehen, das tut er nicht. „Das sagt mir nichts. Die Wahlen sind mir egal.“ Und wie solle sich denn dann etwas verändern in der französischen Gesellschaft? Er zuckt die Schultern.

Die Aktualität des Kommunismus

Am nächsten Tag, wieder vor der Bourse, in der Nähe des alten Hafens. Die CGT, eine der großen französischen Gewerkschaften, ruft zur Kundgebung gegen Arbeitsmarktreformen auf. Um elf haben sich einige Dutzend Aktivisten eingefunden. Ahmed, Mitarbeiter bei Carrefour, wartet auf ein paar Freunde und Kollegen. Viele werden es wohl nicht werden, sagt er, es demonstrieren wieder vor allem organisierte Gewerkschaftler und Funktionäre. „Wir werden müde, das Volk kommt nicht mehr.“ Woran liegt's? Das weiß er nicht. Von der Linken erwartet er nicht viel: „Es gibt keine Linke mehr, die Sozialisten sind Geschichte, die Kommunisten auch.“ Und Mélenchon? „Wir machen weiter,“ sagt er zu einer wegwerfenden Handbewegung. „Und dann werden wir sehen.“

Eine Stunde später haben sich mehrere hundert Personen versammelt, das rot der CGT-Fahnen dominiert. Hier und da sind einige lila Flaggen der union syndicale zu sehen, dazu ein Dutzend Fahnen der kommunistischen Partei. La France insoumise, Mélenchons Bewegung, hat einen Plastikpavillon aufgebaut, einen Tisch mit Broschüren davor; keine Wahlprogramme, keine Werbung für Kandidaten, stattdessen Flugblätter und kleine Hefte, die die Aktualität des Kommunismus erklären. Von der Bühne her ruft es, Macron sei Sinnbild und Motor der „sozialen Gewalt“, am Ende wird die Internationale gespielt. Am Tisch eines benachbarten Cafés singt ein älterer Herr den Text in seinen Hühnerschenkelteller hinein; dann lächelt er.

„Wir brauchen neue, flexible Strukturen“, sagt Sébastien, der sich für Mélenchon engagiert. „ Die alten Parteiapparate funktionieren nicht mehr, gerade in Marseille, wo die Korruption regiert.“ Weiter kommt er nicht, eine Menschentraube bewegt sich auf den Stand zu, ein Filmteam vorneweg, dutzende gezückte Smartphones. Der Tribun selbst gibt sich die Ehre, Mélenchon stellt sich an den Tisch und legt seine Hand auf diese und jene Schulter. Was er sagt, ist kaum zu verstehen, von der Bühne schallt sirenenhaftes wuhuhuhu, der Mistral bläst vom Meer her um die Ecken. Eine Frau fragt, warum er ausgerechnet hier kandidiere, Mélenchon hebt den Zeigefinger knapp vor die eigene Nase; eine seiner Lieblingsgesten.

Mit dem Fallschirm

2012, im Zuge der letzten Wahl, war Mélenchon das Wagnis eingegangen, Marine Le Pen herauszufordern. Er hatte sich in Hénin-Beaumont aufstellen lassen, eine FN-Hochburg, als direkter Gegenkandidat zu Le Pen, und war krachend gescheitert. 21,48 Prozent hat er im ersten Wahlgang geholt und schied damit direkt aus. Le Pen hingegen kam auf 42,36 Prozent. Im zweiten Wahlgang unterlag sie dem sozialistischen Kandidaten Philippe Kemel, mit gerade einmal 0,22 Prozentpunkten.

Nun hielt Mélenchon es für zielführender, sich im vierten Wahlkreis von Marseille zu präsentieren, der die Viertel rund um den alten Hafen umfasst. Dort hat er im Zuge der Präsidentschaftswahl vor einigen Wochen hervorragende Ergebnisse erzielt. Bisher war dieser Bezirk in der Hand der Sozialisten, aber gegen den prominenten Gegenspieler wird Patrick Mennucci keine Chance haben, sein Mandat zu verteidigen. Umfragen sehen ihn bei neun bis zehn Prozent. Entsprechend giftig reagiert er auf Mélenchon: was er mache, sei „parachutage“ – ein Fallschirmsprung, eine weiche Landung eines prominenten Politikers in einem ihm genehmen Wahlkreis, ohne dass ihn die Bevölkerung vor Ort groß interessiere. Er hätte sich lieber dem Kampf mit dem FN stellen sollen, im Norden der Stadt, statt einen linken Bruderzwist anzuzetteln.

Es ist eine Frage, auf die Mélenchon vorbereitet ist; er hebt den Zeigefinger und fragt, ob seine Gesprächspartnerin denn gebürtig aus dem Viertel stamme; sie schüttelt den Kopf. „Sind Sie hier mit dem Fallschirm gelandet?“, fragt er und lacht jovial; das kann er, dieses Lachen. Es wirkt nicht aufgesetzt, obwohl er es sicher schon hunderte Male ausprobiert haben muss; es hat immer noch etwas inoffensiv-verschmitztes an sich. „Sehen Sie“, sagt Mélenchon, „ich bin Marseille seit langem verbunden, und ich habe mich sehr früh schon hier aufstellen lassen. Natürlich werde ich nicht fortwährend vor Ort sein, aber die Stadt liegt mir am Herzen. Sehr.“ Die Frau nickt, Mélenchon wendet sich dem Hafen zu, die Traube folgt ihm, direkt im Anschluß wird der Pavillon abgebaut.

Platz für eigene Ideen?

Als Gérald Souchet diese Geschichte hört, lacht er. Wäre Mélenchon nicht aufgekreuzt, wäre er der Direktkandidat der France Insoumise hier gewesen. „Mélenchons Kandidatur hier hat vieles zerstört.“ Statt eine Alternative zu den etablierten Strukturen zu schaffen, statt auf die Dynamik zu bauen, die Mélenchon durch den Präsidentschaftswahlkampf getragen hat, habe er eine traditionelle Herangehensweise gewählt. Die diene zwar ihm persönlich, aber der Bewegung schade sie. „Diese Wahl wird für uns ein Massaker werden, in ganz Frankreich, wahrscheinlich.“

Die Bewegung der Insoumises in Marseille begann vor anderthalb Jahren. Die Idee war, dass es in den urbanen Zentren haufenweise junger prekär Beschäftigter gebe, die sich eine Menge Know-How erarbeitet hatten. „Wenn man zehn 30jährige in einem Raum versammelt, hat man genug Expertise, um eine komplette Kampagne zu fahren“, sagt Souchet. Man müsse die Leute aber machen lassen; anders als die etablierten Parteien, brauchen die Aktivisten Platz für eigene Ideen. Das erst führe zu dieser enormen Mobilisierung, wie man sie im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes gesehen habe. Die Kampagne jetzt richte sich ausschließlich gegen die neue Arbeitsgesetzgebung; das wird in einigen wenigen Gebieten funktionieren, aber insgesamt sei das zu wenig.

„Mélenchon ist zwar voller guter Absichten, aber auch ein Narziss.“ Seine Berater – wie Bastien Lachaud – dächten noch immer in den Kategorien der fünften Republik; es gebe einen inneren Zirkel, der sich die Posten zuschanze, und dann die Leute drumherum, die man fortwährend enttäusche. Das ist in jeder Partei die gleiche Problematik. „Unsere Parteien werden von Idioten geführt.“ Er schüttelt den Kopf. Die Kampagne wäre ein Desaster geworden ohne all die Freiwilligen. Allein das Meeting am Alten Hafen sei nur durch 300 Freiwillige gerettet worden. Aber es gehe auf jeden Fall weiter. „Wir haben anderthalb Jahre mit quasi nichts auf der Tasche funktioniert. Und die Leute haben Bock, etwas zu verändern in der Politik.“

Traditioneller Klientelismus

Die Idee einer fluiden Demokratie, die nicht auf Personalisierung setzt, muss groß sein in einer Stadt wie Marseille. Hier hält sich das politische Establishment oft durch Klientelismus in den Ämtern, wie man den organisierten Stimmenkauf in Marseille nennt. Jean-Noel Guérini zum Beispiel, der sozialistische Senator des Bezirks und Präsident des Conseil Général, dem obersten Exekutivorgan des Départements, hat sich durch Seilschaften innerhalb und außerhalb der Partei eine unangreifbare Machtbasis gebaut. Er versteht sich ausgezeichnet mit Vertretern bestimmter Minderheiten, die innerhalb der Community Werbung für ihn machen; dafür gibt es anschließend Geld aus der Staatskasse, das an die Vereine der Vertreter fließt. „Wenn es Klientelismus ist“, pflegt er zu sagen, „den Armen zu helfen, dann, ja, mache ich Klientelismus“. Die helfende Hand muss schließlich nicht immer von unten kommen.

Muss sie nicht? Hazem wiegt den Kopf. Er ist Gründungsmitglied der Antifaschistischen Aktion Marseille, die seit 2004 existiert. Für ihn geht es aktuell vor allem darum, die große Katastrophe zu verhindern und die kleine einzuhegen. Die große Katastrophe: der Front National, der in Marseille seit den 80er Jahren eine Hochburg hat. 2014 stellt der FN einen Bezirksbürgermeister im Nordosten der Stadt. Gewinnt dort wiederum ein FN-Kandidat, bedeutet das Posten, Geld und Kontrolle über Behörden. Die kleine Katastrophe, das ist die liberale Rechte, das ist Macron. Das ist die neue Arbeitsgesetzgebung, die „vieles schwieriger macht für viele“. Deswegen wird er wählen gehen, im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter und vielen Marseillais auch: im ersten Präsidentschaftswahlgang haben über 25 %, im zweiten über 30 % der registrierten Wähler sich der Stimme enthalten.

Und was ist mit eigenen Visionen? „Politisch ist die Linke gerade tot. Der PS war für uns schon immer eine rechte Partei, er wird bald sterben. Die Kommunisten existieren nur noch, weil ein paar Delegierte Geld in die Kasse bringen, und La France Insoumise verspricht horizontale Strukturen, aber wenn es darauf ankommt, beißen sie sich an der Macht fest.“

Romantisierte Parolen

Welche Hoffnung es für die Linke gibt, weiß er nicht. „Wir sind nicht die Avantgarde. Wir bleiben vor allem in Kontakt mit den Leuten.“ Die antifaschistische Arbeit hat sich verändert in den letzten Jahren; es gehe darum, konkrete Projekte zu machen, Papierlosen zu helfen, Behördengänge zu begleiten, Sportclubs aufzubauen. Handeln, nicht reden. Aus 100 Militanten Mitte des letzten Jahrzehnts wurde ein Kreis von Aktivisten; zwar sind sie sich politisch selten einig, aber im Konkreten treffe man sich.

„Wir wissen, dass der kommende Aufstand nicht kommt“, sagt Hazem. Die Linke verliere sich in ihren romantisierten Parolen, sie mache inzwischen lieber Kultur als Politik. Das gelte auch für Teile der Autonomen: „Es bringt auch nichts mehr, die Fensterfronten der Banken einzuschmeißen. Das tut denen nicht weh, die sind ja versichert.“ Es geht schlechterdings nicht mehr darum, was man darstellt; sondern was man macht. Symbolismus ist out.

Was sagen die Totgesagten? Im vierten Wahlbezirk, jenem der Viertel rund um den Hafen, haben die Kommunisten niemanden aufgestellt. Ein Stück weiter Richtung Osten hingegen laden die beiden Kandidatinnen zwei Tage vor Ende der Kampagne zur Diskussion, im Foyer du peuple, Thema: die neue Arbeitsgesetzgebung. An die 40 Menschen haben sich versammelt, ¾ davon 60 plus. Jean-Pierre zum Beispiel, seit vier Jahrzehnten Jahren Parteimitglied. Wie geht es also der Linken? „Katastrophal“, sagt er. „Es ist katastrophal.“ Und wie weiter? „Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung.“ Dass die Linke auf parlamentarischer Ebene stark genug werden wird, gegen die Politik Macrons zu intervenieren, daran glaubt er nicht. Aber – hier blitzen seine Augen auf – wenn Macron glaube, er könne seine Vorhaben einfach durchdrücken, „dann hat er sich geschnitten“. Ist die Linke also ein Antagonismus, jene Kraft, die nur noch auf rechtsliberale Projekte reagieren kann? Jean-Pierre zögert. „Ja. Vorerst.“

„Katastrophal“ ist überhaupt ein Wort, das man oft hört in den Zwiegesprächen an diesem Abend. Man macht sich Mut. Eine junge Gewerkschaftlerin hofft auf den Arbeitskampf, „dann sind wir stark, dann zittert die Regierung.“ Die Kandidatin Isabelle Pasquet sagt zum Abschluss, dass nun viel Arbeit warte, gerade nach den Wahlen.

Und der PS? Auch nach einem halben dutzend Kontaktaufnahmen findet sich niemand, mit dem man sprechen könnte. Spät am Abend besucht der sozialistische Kandidat Patrick Menucci ein Straßenkonzert Nähe der Place Paul Cézanne. Doch bevor er zu sprechen ist, ist er auch schon wieder weg.

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