Sein Geist ist allgegenwärtig

JAZZ Ab ins Weltall: Das Sun Ra Arkestra – ohne Spiritus Rector Sun Ra, aber mit dem 92-jährigen Saxofonisten Marshall Allen – gastiert am Dienstag im rappelvollen Festsaal Kreuzberg

Nach fast drei Stunden auf der Bühne haben die teils sehr betagten Musiker des Sun Ra Arkestras bei ihrem Auftritt im rappelvollen Festsaal Kreuzberg am Dienstagabend immer noch nicht genug. Der Tenorsaxofonist, der aber auch mal auf ein paar Trommeln herumklopft und scheinbar wie jeder hier auf der Bühne zig Instrumente beherrscht, aber eben auch nicht mehr der Jüngste ist, schlägt jetzt einfach mal ein paar Räder und deutet zudem Breakdance-Figuren an. Ständig durch das Weltall zu gleiten, „from planet to planet“, wie das bei Sun Ra heißt, scheint jung zu halten.

Das beweist natürlich vor allem der Anführer Arkestra, Marshall Allen, der nach dem Tod des großen Sun Ra, 1993, die Leitung des zwölfköpfigen Ensembles übernommen hat. Das kleine Männchen in der Mitte der Bühne wird nicht müde, wild mit seinem Altsaxofon in alles reinzublöken, was ihm seine Mitstreiter an Klängen aufbereiten. Der Orchesterleiter ist sagenhafte 92 Jahre alt. Es ist ein wirklich sehr erstaunliches Jazzkonzert. Allein schon das Publikum: Das Klischee vom Free-Jazz-Hörer als alter Mann mit Bart, es darf nicht mehr geschrieben werden.

Tanzende Frauen

Im Festsaal ist das Publikum jung, man könnte es sich so auch auf einem Konzert einer New Yorker Indierockband vorstellen. Überall sieht man tanzende Frauen. Bemerkenswert ist auch, wie es das Arkestra hinbekommt, seinen Spiritus Rector, Sun Ra, hingebungsvoll zu ehren und dessen Mission in seinem Namen fortzuführen, dabei aber kein Stück wie eine abgehalfterte Revivalband aufzutreten. Was auch daran liegt, dass die Band nun eben nicht mehr dem Mann an den Tasten gehorcht, sondern Marshall Allen. Selbst für die Space-Sounds, ein Markenzeichen Sun Ras, ist er zuständig. Die seltsame Flöte, in die er immer wieder bläst, klingt tatsächlich wie ein Moog unter Starkstrom.

Aber der Geist von Sun Ra, dessen Bedeutung seit seinem Tod noch zugenommen, der von Techno-, und HipHop-Produzenten so verehrt wird wie von Rockmusikern, ist natürlich allgegenwärtig bei dem Konzert. Wahrscheinlich halten die Musiker auf der Bühne, von denen jeder einzelne neben einem afrodelischen Glitzeranzug auch eine verrückte Kopfbedeckung trägt, mit ihren Hüten und Kappen sogar direkten Kontakt mit ihrem geistigen Patron, dem Jazzer vom Saturn, der nun eben zu seinem Heimatplaneten zurückgekehrt ist. Texte von Sun Ra werden verlesen, seine Originalstimme ist zu hören, und natürlich werden die alten Gassenhauer von ihm gespielt, „Space Is The Place“ etwa oder „We Travel The Space Ways“.

Zu Beginn des Konzerts gibt es eher Sun Ra für Anfänger. Das swingt auch schon mal oder klingt nach Jazz Rock. Dann heißt es: Pause. Und es wird verkündet, dass es nach der Unterbrechung ziemlich anders weitergehen wird. Und das tut es dann auch.

Geerdet im Blues

Der Space-Jazz-Sun-Ra wird nun gewürdigt, immer noch geerdet im Blues, jetzt aber mit deutlich mehr Free-Jazz-Anleihen, und auch Marshall Allens Sax-Attacken werden zunehmend schriller. Posaunen, Flöten, Perkussion, obskure afrikanische Instrumente, Kontrabass, Gitarre, Orgel und zig Instrumente mehr lassen den Sound immer stärker abheben. Der Festsaal schwebt irgendwann, wird zum Raumschiff, ab in das Weltall geht es, dorthin, wo ein besseres Leben auf uns wartet, wie Sun Ra immer gepredigt hatte.

Andreas Hartmann