Nicht die Hölle

ZUKUNFT Was man vom Hamburger G20-Gipfel erwarten kann: eine entschiedene europäische Initiative für Nachhaltigkeit, Solidarität und Teilhabe

Illustration: Imke Staats

Von Claus Leggewie
und Dirk Messner

Vieles an dem, was Kritiker der G20 vorbringen, ist berechtigt: In Hamburg werden Autokraten dabei sein, die Gipfel-Agenda ist in vieler Hinsicht weit entfernt von einer gerechten, inklusiven und nachhaltigen Weltwirtschaft. Wenn sich Politikberater dennoch etwas vom Gipfel erwarten, dann, weil sie auf eine von den EU-Ländern und ihren Zivilgesellschaften mit einigen Partnern im „globalen Süden“ getragene Initiative für ebendiese Ziele setzen: Nachhaltigkeit, Solidarität und Teilhabe. Die beiden historischen Abkommen von 2015 – der Pariser Klimapakt und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung – müssen mit Nachdruck verfolgt werden, damit sie nicht unter die Räder der „Our Country first“-Ideologe geraten.

Dafür kann die deutsche Präsidentschaft wichtig sein, noch besser wäre eine entschiedene Europäisierung dieses Vorstoßes, die von einer deutsch-französischen Allianz ausginge. In Hamburg werden erklärte „Unilateralisten“ zugegen sein, die „America first“, ein neoosmanisches Reich oder eine eurasische Schutzzone propagieren, gerade deshalb sind klare Signale zentraler G20-Mitglieder für eine Wiederbelebung multilateraler Kooperation so wichtig. Eine starke G18- oder G19-Erklärung für den Klimaschutz wäre ein Ausrufezeichen für Vernunft und Zukunftsfähigkeit.

Um globale Kooperation in schwierigen Zeiten voranzubringen, reichen staatliche Beziehungen nicht aus. Setzen kann man auf die neuen Gruppen im Umfeld der G20: „Business20“ etwa mit Vorschlägen von Unternehmern, die in „Labour20“ verbundenen Gewerkschaften und vor allem Civil20. Unterstützt werden diese eher am globalen Gemeinwohl orientierten Initiativen durch „Think20“, einen Kranz renommierter Denkfabriken, die eine nachhaltige und inklusive Globalisierung voranbringen wollen. Europäisierung hieße, genau diese Peripherie globalen Regierens stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Es ist keine Petitesse, dass diese Vernetzungen zwischen den G20-Gesellschaften immer enger werden, gerade in einem Moment, in dem autoritäre Regierungen den Multilateralismus untergraben. Globale Kooperation kann man auch von unten verstehen. Wichtig ist eine neue Finanzarchitektur der Weltgesellschaft – und wie diese den globalen Klimaschutz mitfinanziert.

Dazu können etwa sogenannte Zukunftsfonds dienen. Die Klima- und Nachhaltigkeitsbeschlüsse der Gipfel in Paris und New York vom Herbst 2015 sind vor allem für die Industriestaaten, die über 80 Prozent der Treibhausgase ausstoßen, große Herausforderungen. Selbst Saudis und Russen dämmert, dass das fossile Zeitalter zu Ende geht. Wie bekommt man also die gewaltigen Investitionsmittel für effektiven Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung zusammen, während gleichzeitig immense Summen spekulativen, Anlage suchenden Kapitals zirkulieren?

Einen möglichen Weg hat Norwegen gewiesen. Aus den Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung speisen sich dort staatliche Pensionsfonds, über deren national begrenzte Absicht und Wirkung hinaus man im europäischen Rahmen transformative Zukunftsfonds entwickeln könnte: privat-öffentliche Partnerschaften zur Erschließung privater Liquidität und zur Abfederung des Übergangs in das postkarbone Zeitalter. Die Wirtschafts- und Steuerpolitik der Nationalstaaten verbindet sich dabei mit Zielen, die allein in globaler Kooperation bewältigt werden können. Finanztransaktionen bekommen so eine Dimension innergesellschaftlicher, internationaler und Generationengerechtigkeit.

Claus Leggewie

Foto: dpa

67, Politikwissenschaftler, ist Direktor des Forschungskollegs Kulturwissenschaftliches Institut Essen.

Neoliberale Todsünden? Unbedingt!

Der Vorschlag zielt auf höhere Investitionen von Staaten (im neoliberalen Verständnis Todsünde 1), er impliziert selektive Steuererhöhungen (Todsünde 2) und rührt damit an Tabus, die im Sinne nachhaltiger Entwicklung keine mehr bleiben sollten. Investiert werden muss in Schlüsselindustrien der Transformation: Speichertechnologien, Elektromobilität, klimafreundliche Baustoffe. Darauf sind private Investoren mit kurzfristigen Gewinnerwartungen oft ebenso wenig eingestellt wie die üblichen Anreize der staatlichen, keynesianischen Konjunktursteuerung.

Finanziert werden muss auch die sozial- und strukturpolitische Flankierung der Transformation: Projekte für die Verlierer des Wandels in altindustriellen Regionen. Ebenso nötig sind Investitionen in die internationale Klimakooperation, um Entwicklungsländer beim Klimaschutz und der Klimaanpassung zu unterstützen. Befüllt wird ein Staatsfonds durch nationale Nachhaltigkeitssteuern: Auf Erbschaften, Nachlässe sowie CO2 und durch Einnahmen aus dem ­Emissionshandel, die angehoben und international harmonisiert werden müssen, um Standortnachteile zu verhindern (was – mit oder ohne USA – exakt eine Aufgabe von G20 sein muss).

Letztere entsprechen dem mit der historischen Verantwortung der alten Industrieländer gekoppelten Verursacherprinzip, Erstere realisieren ein auf die historische wie die Zukunftsverantwortung ausgerichtetes Prinzip sozialer Solidarität. Gesellschaften, die viel emittiert haben, müssen zahlen, Private, die durch die Akkumulation von Vermögen profitiert haben, sollen mit einer progressiven Erbschaftsteuer zur Gestaltung gemeinsamer Zukunft beitragen.

Dirk Messner

Foto: DIE

55, Leiter des Deutschen Instituts für ­Entwicklungspolitik. Beide sind Kodirektoren des Centre for Global Cooperation Research und beteiligt am T20-Prozess der G20.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass etwa in Deutschland ein Drittel des aktuellen Erbschafts- und Schenkungsvolumens von nur 1,5 Prozent der Erbschaften erbracht wird. Die Umverteilung beträfe also nicht die viel genannten mittelständischen Familienbetriebe, sondern die Dynastie der Superreichen, die auf kaum noch bezifferbaren Vermögen hocken. Bei einem vernünftigen CO2-Preis pro Tonne zwischen 30 und 40 Euro und Erbschaft- und Nachlassteuer von moderaten 10 bis 20 Prozent würde bis zum Jahr 2040 allein in Deutschland ein Zukunftsfonds mit einem ­Volumen von 400 bis 1.000 Milliarden Euro entstehen.

So würde praktizierter Klimaschutz nicht nur als Opfer und Last empfunden – höhere Steuern, Verzicht auf gewohnte Routine, Beschwörung von Naturkatastrophen, Abbau altindustrieller Arbeitsplätze –, sondern als unternehmerisches und soziales Projekt präsentiert, das kreative Ideen freisetzt, neue Akteure ins Spiel bringt, Gewinn im materiellen wie ideellen Sinn schafft und – welch ein Luxus! – den Akteuren Spaß und Erfüllung bereitet.

Wenn Europa in diese Richtung voranginge, wird es zu neuen Kräften kommen, weil es auf diese Weise Millionen junger, gut ausgebildeter und der Idee der offenen Gesellschaft ­verpflichteter Menschen eine sinnvolle Aufgabe, eine gut bezahlte Tätigkeit und eine nachhaltige Gesellschaft bietet. Wenn Europa für diese Ideen, durch ein kluges Zusammenspiel zwischen Merkel und Macron, möglichst viele Partner in der G20 mobilisiert, könnte der Gipfel einen Aufbruch markieren – gegen die Welt der ­gestrigen Autokraten und ­Uni­lateralisten.