Der Blick von der anderen Seite

Aussicht Vom Skywalk kann man über die gesamte Stadt blicken. Über den Dächern von Marzahn – vor genau 40 Jahren wurde hier die erste Platte gebaut – tun sich ganz neue Ansichten auf

Fast unendliche Weiten: Blick über Marzahn vom Skywalk aus, der 70 Meter hoch auf dem Hochhaus in der Raoul-Wallenberg-Straße 40/41 zu finden ist. Wer Marzahn mal aufs Dach steigen will, kann sich unter Telefon (030) 264 85 25 88 dafür anmelden

Von Ivy Nortey
(Text) und Wolfgang Borrs (Foto)

Gut 70 Meter über dem Boden steht eine Gruppe Rentner auf einem Häuserdach und staunt hinüber in den Westteil der Stadt und auf den Fernsehturm am Alex. Unten sind Menschen auf der Straße, klein wie Ameisen, Trambahnlinien, winzig wie Raupen und Autos, auf Käfergröße geschrumpft. Dazwischen ist alles grün. Und wer in die Weite schaut, sieht ganz Berlin – mal aus einer anderen Perspektive. Von oben, von Marzahn aus.

Das Hochhaus in der Raoul-Wallenberg-Straße 40/41 ist eigentlich ein normales Wohnhaus der Baugenossenschaft Degewo. Es hat 21 Stockwerke, alles ist rechteckig, praktisch, gut. Das Haus sieht aus, wie all die anderen Plattenbauten hier im Umkreis. Doch es bietet eine Besonderheit: Auf dem Dach hat die Degewo den Skywalk installiert: Eine Aussichtsplattform über den Dächern von Marzahn.

Die Attraktion soll Besucher nach Marzahn locken. „Damit Leute wenigstens mal herkommen, bevor sie sich eine Meinung bilden“, sagt Oleg Peters, Guide des Skywalks. „Das hier ist eine relativ elitäre Sache“, räumt er ein. „Es finden nur drei Führungen in der Woche statt.“ Aus Rücksicht auf die Mieter. Das kleine Abenteuer ist kostenlos, geht aber nur mit Anmeldung.

Oleg Peters führt vom Erdgeschoss nach oben, drückt im Fahrstuhl den Knopf für den 21. Stock. Noch einen Treppenabsatz hoch, durch die nächste Tür, und schon steht man im Freien auf einem Podest aus Gitterplatten. Dann geht es über ein paar Gitterstufen, die freischwebend außen am Haus montiert sind, nach ganz oben. Durch die Gitterstufen ist der Abgrund zu sehen, 70 Meter tief. Dann ist das Ziel erreicht, die Plattform auf dem Dach.

Der Weg dahin ist gar nicht so einfach, besonders, wenn man auf einen Gehstock angewiesen ist. Aber die Rentner haben einen Grund, die löchrige Stahltreppe zu erklimmen: „Damit man mal alle Himmelsrichtungen sieht, aus einer anderen Perspektive“, sagt eine Besucherin. „Marzahn-Hellersdorf, Berlins beste Aussichten“, sagt Peters ganz passend und wedelt ausschweifend mit den Armen. Ein Flugzeug fliegt vorbei, knapp unter der Wolkendecke, das könnte man fast am Bauch kitzeln.

Mit der anderen Perspektive, da hat die Besucherin recht. Eigentlich ist Marzahn von außen betrachtet mehr Vorurteil als Realität. Für die Meisten zumindest. Viele, die im Innenstadtring leben, denken doch: „Nicht grün, nur Platte, alle arbeitslos, dominierende Farbe grau“ – damit zählt Peters die Vorurteile über den Bezirk auf. Aber er hat noch eins vergessen: Marzahns rechtes Images ist nicht zu bestreiten. Und außerdem liegt es sozusagen am Arsch der Welt (zumindest für die meisten Bewohner des Innenstadtringes).

Dabei seien diese Argumente seit Jahren überholt, sagt Peters. „Bäume müssen eben auch erst mal wachsen.“ Und für viele Menschen war das hier mal das (Wohn-)Paradies (siehe Seite 44, 45).

Der Bezirk: Marzahn-Hellersdorf hat rund 262.000 Einwohner und entstand 2001 durch die Fusion der Bezirke Marzahn und Hellersdorf. Hier befindet sich die größte Großsiedlung, die in industrieller Plattenbauweise in der DDR errichtet wurde. Nach der Wende erfuhr der Bezirk Abwanderung und Abwertung. In den letzten Jahren zogen so viele Menschen dorthin wie seit DDR-Zeiten nicht mehr. Heute sind hier allerdings Wohnungen so schwer wie in ganz Berlin zu finden.

Die Serie: Seit April bringt die Internationale Gartenausstellung (IGA) – gerade ist Halbzeit, sie läuft noch bis Mitte Oktober –, viele Besucher nach Marzahn-Hellersdorf. Zeit für die taz, den Wandel im Bezirk mit einer Serie unter die Lupe zu nehmen. (taz)

Baumkronen sieht man von hier oben aus tatsächlich viele. Klar, manche der umliegenden Plattenbauten sind auch grau, aber viele sind bunt, und von hier oben lässt sich weit darüber hinaus blicken. Es wurde hoch gebaut, mit viel Freiraum. Dadurch wirkt hier zwischen den Häusern alles freier als in der eng bebauten Innenstadt.

Im Osten ist der Wolkenhain, die Aussichtsplattform der Internationalen Gartenausstellung, und die Seilbahn zu sehen. Eine weitere Errungenschaft für Marzahn. Dahinter fällt der Blick auf das Zementwerk Rüdersdorf, wie Oleg Peters erklärt. Dreht man sich entlang des Sonnenverlaufs weiter um die eigene Achse, tun sich die Müggelberge auf, die Hochhäuser von Gropiusstadt, das alte DDR-Kraftwerk und ganz in westlicher Ferne, und wie ein schmaler Strohhalm, der Funkturm. Der Perspektivwechsel lohnt sich.

„Ditt war schön“, sagt eine Frau beim Abstieg. Die Dame ist fast 80 Jahre als und aus Gropiusstadt angereist, „weil ich den Ausblick mal von der anderen Seite genießen wollte“.

Ja, irgendwie schön hier in Marzahn.

Eine Plattenbauwohnung in Marzahn: früher ein Privileg. Und heute? SEITE 44, 45