Altersheim für Prostituierte: „Wir sind nur noch nachts schön“

In Mexiko-Stadt arbeiten 70.000 Prostituierte. Doch was passiert mit ihnen, wenn sie altwerden? Ein Besuch bei 19 Frauen, die in einem Heim leben.

Eine ältere Dame schminkt sich im Spiegel

María Luisa Torres in ihrem Zimmer – die Frauen im Heim sind zwischen 54 und 86 Jahre alt Foto: Lisa Maria Hagen

MEXIKO-STADT taz | Wie viele Männer es waren? Sie weiß es nicht mehr. Schneller Sex, harter Sex, mal zärtlich, mal verführerisch, auch gewaltsam. Hunderte, Tausende Male? Eigentlich auch egal. „Geliebt habe ich keinen“, sagt Norma Ruiz.

Sie ist 64 Jahre alt, ihre Haare trägt sie kurz geschoren. Norma Ruiz ist eine wuchtige Frau mit einem sanftem Lächeln. „Normota“ nennen ihre Freundinnen sie, die große Norma. Eigentlich sollte sie etwas abnehmen, sagt Norma, damit das Gehen leichter fällt. Sie lebt in einem Altenheim, Casa Xochiquetzal heißt es, in der Altstadt von Mexiko-Stadt. Hier finden Frauen im Alter Obdach, die ihr Leben lang auf dem Straßenstrich zu Hause waren. Ohne ihre Freier haben sie niemanden mehr. Das Alter heißt für sie, arbeitslos zu sein, obdachlos. In der Casa Xochiquetzal hat Norma heute 18 Mitbewohnerinnen. Sie sind zwischen 54 und 86 Jahre alt.

Die Altstadt von Mexiko-Stadt ist ein Ort, wo fast alles käuflich ist: Vom Aussterben bedrohte Tiere, Auftragsmorde, Sex. Norma hat in der Gegend 35 Jahre lang ihren Körper verkauft. Zum ersten Mal mit 16, zum letzten Mal mit Mitte fünfzig. Nun ist sie eigentlich Frührentnerin, scherzt Normas Freundin Elia, sie lacht. Elia ist 70 Jahre alt, sie wohnt ebenfalls in der Casa Xochiquetzal. „Wir Alten, wir sind nur noch nachts schön“, sagt sie. Ihren Körper hat sie zum letzten Mal vor zwei Jahren verkauft. Für umgerechnet drei Euro.

Prostitution ist in Mexiko nicht verboten. Sie ist ein Riesengeschäft. Sexarbeiterinnen sind hier praktisch rechtlos. Zwar gibt es strenge Gesetze gegen Menschenhandel und Zuhälterei, die jegliche organisierte Form von Prostitution verbieten. Und trotzdem ist Menschenhandel in Mexiko das lukrativste Delikt nach dem Drogenhandel.

„Was passiert, wenn die Haut runzelt?“

Allein in der Hauptstadt verkaufen etwa 70.000 Menschen Sex für Geld. Ein Viertel davon sei minderjährig, verbreitet die Hilfsorganisation Brigada Callejera. Kaum eine Studie aber erfasst, wie viele Sexarbeiterinnen im Seniorinnenalter sind. Jesica Vargas, die Direktorin der Casa Xochiquetzal, kritisiert: „Kein Mensch fragt sich doch, was mit einer Prostituierten passiert, wenn ihre Haut runzelt?“

Eine ältere Dame

Norma Ruiz bei der Bibellese – „Normota“ nennen sie ihre Freundinnen, die „große Norma“ Foto: Lisa Maria Hagen

Jesica Vargas klagt: „Unsere Frauen sind dreifach gebrandmarkt: weil sie als Prostituierte gearbeitet haben, weil sie im Seniorenalter sind und weil sie Frauen sind.“ Mexiko schaue da lieber weg, fröne der Doppelmoral, stärke das Patriarchat. „Viele Menschen sind der Überzeugung, dass diese Frauen keine Unterstützung verdienen“, sagt Vargas. Jeden Tag kämpft sie für das Überleben der Casa Xochiquetzal. Die Herberge finanziert sich nur durch Spenden.

Dies ist Normas Geschichte: Kurz nach ihrem neunten Geburtstag vergewaltigt ein Unbekannter sie auf dem Weg zur Schule. Der Schmerz brennt sich in Normas Erinnerung ein. Ihr Vater stirbt, als sie zwölf ist, der ältere Bruder soll die Familie nun ernähren. Mit 14 haut Norma von zu Hause ab, weil der Bruder sie schlägt. Norma treibt sich nun Tag und Nacht in Kneipen und Bordellen herum. Sie arbeitet. Erst als Kellnerin, dann Zimmermädchen, dann Prostituierte. Die älteren Mädchen geben Norma Tipps, sie lernt schnell.

Der erste hieß Pedro

Normas erster Freier heißt Pedro. Er sagt, er sei ihr Liebhaber. Das Wort gefällt Norma, aber sie hat Angst. Das Gefühl der Vergewaltigung ist immer noch da. In einem Auto, erzählt Norma, beißt sie die Zähne zusammen und macht die Beine breit. Pedro zahlte ihr etwa hundert Euro, noch heute ein Vermögen. „Mein Job war es, mich auszuziehen. Geschämt habe ich mich trotzdem“, sagt Norma. Sie lacht.

Die Plaza Loreto wird ihr Revier. Das ist nur zwei Straßen entfernt von dem Ort, der heute die Casa Xochiquetzal ist. Mal drei, mal vier Männer hatte Norma am Tag. An ihren lukrativsten Tagen wälzen sich bis zu zehn über sie hinweg. „Die Leute glauben, das sei leicht verdientes Geld“, sagt Norma, sie lacht bitter. „Den Männern jeden Tag aufs Neue vorzuflöten: ‚Oh Süßer, du bist so heiß‘ – über die Jahre hat mich das krank gemacht“, sagt Norma. Sie schnupfte Kokain damals. Norma schließt die Augen und lässt die Fantasie fliegen.

Vor zwölf Jahren haben Frauenrechtlerinnen wie die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska sich an den damaligen Regierungschef von Mexiko-Stadt gewandt, an Andrés Manuel López Obrador. Sie wollten auf das Elend der Prostituierten im Rentnerinnen­alter aufmerksam machen. Viele der Frauen, die heute in der Casa Xochiquetzal leben, hungerten damals tagelang, aßen aus Mülleimern, schliefen auf Pappkartons. Die Regierung sollte den Frauen helfen, in ein würdevolles Leben zurückzufinden.

Aztekische Liebesgöttin gibt den Namen

Der damalige Regierungschef López Obrador stellte den Frauen kurz vor seinem Rücktritt ein Kolonialhaus in der Altstadt zur Verfügung. Seit elf Jahren heißt dieser Ort nun Casa Xochiquetzal, das ist der Name der aztekischen Liebesgöttin. Seit ihrer Gründung hat die Herberge rund 500 Frauen ein Dach über dem Kopf gegeben. Sie bekommen dort drei Mal am Tag ein warmes Essen, medizinische und psychologische Betreuung. Sie können sticken und basteln, auch die Grund- und Hauptschule nachholen.

Eine ältere Dame sitzt auf einem Bett

Elia hat ihren Körper das letzte Mal vor zwei Jahren verkauft Foto: Lisa Maria Hagen

Norma sitzt auf einem Plastikstuhl im Hof des Hauses. In der Mitte plätschert ein Brunnen vor sich hin, darin wäscht María Luisa ihre Wäsche. Langsam, wie in Zeitlupe, tut sie das. Neben Norma sitzt Elia und strickt. Rund um die Casa tobt der Markt von Tepito, aber die Schreie, mit denen die Verkäufer ihre Waren anpreisen, prallen an den dicken Wänden der Herberge ab. Es ist ruhig hier. Endlich.

Zu Norma kamen manche Männer über Jahre. Stammkunden. Sie zahlen ihr umgerechnet sechs Euro. „Aber es war nicht immer nur Sex“, erzählt Norma, „manchmal war es auch einfach nur fürs Reden.“ Gegen die Einsamkeit an Weihnachten. Zum Vergessen. „Wir Nutten sind die geborenen Psychologinnen“, sagt Norma, sie kichert. Aus manchen Freiern wurden so Freunde.

Ein Schock fürs Leben

Aber da sind auch die schlimmen Erlebnisse. Als Norma 28 Jahre ist, geht sie mit einem Mann aufs Zimmer. Im Badezimmer will sie sich nur kurz frisch machen, da sieht sie im Spiegel, wie der Freier Perlonstrümpfe aus seiner Tasche zieht. Sie weiß: Eine Kollegin wurde mit Perlonstrümpfen erdrosselt. Normas Herz klopft. Sie murmelt etwas von Kondomen, stürzt aus dem Zimmer, so entkommt sie. Tage später muss sie zusehen, wie Sanitäter eine Leiche aus dem Hotel gegenüber tragen. „Gott hat mich immer beschützt“, sagt Norma. Sie deutet auf die Bibel auf ihrem Nachtkästchen. Jeden Tag liest sie darin. Mit einem Vergrößerungsglas, ihre Augen sind schlecht.

Norma hat eine Tochter von einem Freier. Ein Leben lang hat Norma gearbeitet, auch für sie. „Meine Tochter sollte es besser haben als ich.“ Heute lebt ihre Tochter in einer anderen Stadt. Das Leben, die Arbeit ihrer Mutter sind ihr peinlich. Wo Norma ist und wie es ihr geht, weiß sie nicht. Besuch in der Casa Xochiquetzal bekommt Norma nie. „Macht aber nichts“, sagt sie, „ich habe hier meine Freundinnen, wie Elia und Normita, die kleine Norma. Mehr brauche ich nicht.“

Mit den Jahren wurden die Männer weniger. Nur die Stammkunden blieben, Norma nennt sie Liebhaber. „Wenn du alt wirst, bleiben dir ein paar treue Seelen. Der Rest will junge Hüpfer mit festen Brüsten und straffer Haut“, sagt sie. Am Ende dann gibt Normas Herz fast auf. Zu viel schneller Sex hat es müde gemacht. Ihr Herz ist jetzt in Rente, sagt Norma. Es darf sich schonen. Allein, ohne Gegenleistung. Einmal mehr, und es könnte aufhören zu schlagen.

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