Menschen mit geistiger Behinderung: Der Vorfall

Was tun, wenn ein behinderter Mensch einen Absence in der Öffentlichkeit hat? Mancher Arzt hält Pfleger für Idioten und die Polizei ist oft überfordert.

Jeder Vorschlag stößt auf dankbares Interesse, wenn er bedeutet, Aufmerksamkeit zu bekommen Illustration: Katja Gendikova

Es war ein kalter Frühwinternachmittag, alle langweilten sich in der Einrichtung. Man könnte doch etwas unternehmen, dachte ich, aber was macht man, wenn man etwas unternimmt? Man könnte zum Beispiel ins Kino gehen.

Geistig Behinderte werden oft mit Kindern gleichgesetzt, um ihre Fähigkeiten zu beschreiben: Kalle wäre dann auf der Entwicklungsstufe eines Sechs- bis Achtjährigen. Jedes Geschenk, das er erhält, ist für ihn nicht nur eine Zuwendung, sondern eine Aufgabe, an der er sich misst: Kann ich mich für das interessieren, was der andere als mein Ich empfindet?

Neulich hat sein Vater all seine alten Modelleisenbahn-DVDs ausgemistet, und statt sie stillschweigend zu entsorgen, hat er sie Kalle geschenkt – und nun sitzt Kalle Abend für Abend drei Stunden vor dem Fernseher und sieht den Modelleisenbahnen dabei zu, wie sie durch eine Modelleisenbahnlandschaft tingeln. Er entwickelt dabei keineswegs die Lust, selbst Modelleisenbahnen aufzubauen oder auch nur zu besitzen; das Ansehen des Films ist für ihn wie eine Hausaufgabe, durch die er seine Liebe beweist.

Und weiß Gott, Kalles Liebe ist groß. Jeder Vorschlag stößt auf dankbares Interesse, wenn er bedeutet, Aufmerksamkeit zu bekommen, und nicht allzu sehr nach Arbeit riecht. Kino ist Freizeit, also keine Arbeit, und es wird außer Kalle nur noch Stefan mitkommen. Obendrein gibt es ungesundes Essen. Es hat schon schlechtere Tage gegeben.

Der Schriftsteller und taz-Autor Frédéric Valin betreut geistig behinderte Menschen.

Dies ist der letzte von vier Teilen einer Serie, in der er die Realität dieser Arbeit schildert, jenseits von Betroffenheitskitsch und Verdrängung. Alle Texte auf taz.de/sichkuemmern. Illustrationen von Katja Gendikova.

Ich bin noch nicht allzu lange da, ich kenne Kalles Störungsbild nur aus den Akten. Ich weiß, dass er Bluter ist, was während der Geburt undiagnostiziert blieb, und er nach einem Sturz in früher Kindheit eine Einblutung in den Frontallappen hatte, woraus eine multifokale Epilepsie entstand. Kalles Anfälle äußern sich nicht dadurch, dass er auf dem Boden liegt und zuckt; er rennt stattdessen unter lautem Geschrei unkontrolliert und blind durch die Gegend, wobei er so ungefähr jedes Hindernis andötzt, das sich in näherer Reichweite befindet. Und wenn dieses Hindernis eine Schrankwandkante ist, rennt er sich eben auch ein Loch ins Hirn.

14 verschiedene Präparate

Kalle bekommt am Tag ungefähr 14 verschiedene Präparate: Antiepileptika, Antipsychotika, Gerinnungsfakoren, L-Thyroxin für die Schilddrüse, und ein Magenmedikament, damit ihn die ganzen Präparate nicht von innen zersetzen. Kalle werden in der Woche Substanzen im Wert meines Monatseinkommens in den Körper gepumpt. Und es hilft. Obwohl wahrscheinlich niemand sagen kann, wie die ganzen Medikamente miteinander reagieren und welche Auswirkungen das zeitigt, gilt er seit drei Jahren als anfallfrei.

Allerdings: Kalle hat Absencen. Wenn er überfordert ist, klappen seine Augen nach oben und er ruft fortwährend, dass er nichts sehen kann. Bleibt er einige Zeit in diesem Zustand, steigert sich seine Verunsicherung und er beginnt wild herumzubrüllen; in dem Fall ist er kaum mehr ansprechbar. Kein Arzt kann uns sagen, was da in seinem Kopf vor sich geht, und selbst wenn er es wüsste: Würde uns das helfen, mit den Absencen umzugehen? Schwer zu sagen.

Den Film über ist alles in Butter, Kalle muss viermal auf Toi­lette. Nach jedem Gang hängt er sich wieder an den Hahn und versucht, den Grundwasserspiegel Berlins um einen halben Meter runterzusaufen. Kalles enormer Durst ist möglicherweise Folge des Medikamentencocktails, Nebenwirkung der Psychopharmaka. Es ist aber auch denkbar, dass da seine Gier und Grenzenlosigkeit durchschlägt; Kalle kennt kein Maß. Wenn man ihn ließe, würde er sieben Schnitzel verdrücken, noch vor dem Frühstück.

Wir sind auf dem Weg zum Bus, als Kalles Augen beginnen, nach oben zu klappen; als würde er versuchen, in seinen Schädel hineinzukucken

Wir sind auf dem Weg zum Bus, als Kalles Augen beginnen, nach oben zu klappen; als würde er versuchen, in seinen Schädel hineinzukucken. Er greift nach meiner Hand, seine ist riesengroß und warm, wie ein Kuhlfladen, denke ich, da beginnt Kalle zu rufen: „Ich seh dich nicht, ich seh dich nicht!“ Sofort bekommt seine Stimme etwas Aggressives, als würde er auf einer Demo stehen und eine Rede halten; eine, von der er nicht weiß, ob sie was taugt.

Kalle will auf die Straße

Ich beginne, laut vor mich hinzusprechen: wo wir sind, was wir gerade gemacht haben, wohin wir jetzt gehen und wie weit das noch ist, was wir danach machen und was es heute Abend zu essen geben wird. Das wiederhole ich möglichst oft. Zwischendrin stelle ich ihm einfache Fragen, aber Kalle antwortet nicht, er hat seine Augen fest geschlossen und langsam setzt die Nackenstarre ein. Inzwischen sagt Kalle nicht mehr, dass er mich nicht sehen kann, er schreit nur noch oder stößt Gurgellaute aus. Ich versuche, ihn in einen Hauseingang zu ziehen, damit er sich dort auf die Treppe setzen und entspannen kann, während er weiter abwechselnd brabbelt und brüllt. Kalle hat ein sagenhaft lautes Organ.

Erste Passanten beginnen uns großräumig zu umgehen, während ich die Hand auf Kalles Schulter habe und versuche, meine Stimme nicht zu blechern klingen zu lassen. Noch drei Meter trennen Kalle von einer vierspurigen, vielbefahrenen Straße; genau da will er hin. Ich stelle mich ihm immer wieder in den Weg, er ist knapp 20 Zentimeter größer als ich und wiegt 40 Kilo mehr, es ist ein Kampf wie Klitschko gegen Kentikian. Vielleicht sollte ich ihm einfach ein Bein stellen und hoffen, dass er nicht allzu ungünstig fällt – aber das bringe ich nicht über mich.

Während ich Kalle abdränge wie ein BMW-Fahrer, fische ich in meiner Hosentasche nach dem Handy. Aber wen soll ich anrufen? Die Polizei? Vor Kurzem haben die im Wedding einem offensichtlich geistig Verwirrten die Hunde auf den Hals gehetzt, und einen nackten Durchgedrehten im Neptunbrunnen haben sie direkt erschossen. Kalle ist nicht aggressiv, aber er sieht beängstigend aus, wie er dasteht: ein alter keltischer Krieger, den Schlachtschrei auf den Lippen, in Hochwasserhose und vollgekleckerter Winterjacke. Die bringen es fertig und stecken ihn in eine Gummizelle. Oder, noch besser: Sie schießen ihm in den Oberschenkel; das Blut würde bis nach Leipzig hinunterfließen. Mindestens werden sie ihm den Arm auf den Rücken drehen, dass er jault vor Schmerz. Das geht schon mal nicht.

Erst mal beruhigen

Soll ich also vielleicht die Sanitäter rufen? Die dürfen Kalle ohne ärztliche Weisung nicht mitnehmen. Da muss dann schon ein Arzt seinen Blick drauf werfen, und das ist reines Glücksspiel. Ich habe schon einige Male die Erfahrung machen müssen, dass Ärzte bisweilen Betreuer für Idioten halten, denen man nicht zuzuhören braucht. Natürlich machen das nicht alle. Aber nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, im Notfall auf einen Arzt der selbstherrlichen Sorte zu stoßen, der es für eine ausgezeichnete Idee hält, Kalle in die Psychiatrie einzuweisen oder sonst was.

Ich habe tatsächlich keine Ahnung, ich weiß nicht, ob diese Szenarien realistisch sind, ich weiß nur: Im Ernstfall verlasse ich mich lieber nicht auf Polizei und Notarzt. Stattdessen rufe ich auf Gruppe an, ich habe Glück, dass da gerade ein erfahrener Kollege Dienst tut. Der hat schon so viel erlebt, der weiß bestimmt irgendwas. Einmal hat ihm ein Bewohner bei „Hollyday on Ice“ während der Pause mitten auf die Zugangstreppe gekackt, und er hat das trotzdem hinbekommen, der wird mir sagen, was zu tun ist.

Drei Minuten später zweifle ich weniger an mir selbst. Der Kollege hat gesagt, ich solle Kalle in eine Seitenstraße zerren, „und wenn es sein muss, packste ihn am Schopf“, er organisiere ein Auto, käme in zehn Minuten und hole uns ab.

Nachdem ich Kalle in eine Ecke gesetzt habe, während er die ganze Zeit „Nein, nein!“ schreit und ich ihn ungefähr ein Dutzend Mal über den Film, das kommende Abendessen und unsere Abholung informiert habe, beruhigt er sich so weit, dass er das Kinn auf die Brust nehmen kann und sogar die Augen öffnet. Sein Blick ist zwar glasig, aber er fixiert mich. „Wo bin ich?“, frage ich, und er sieht mich an, als wäre ich ein Idiot. „Häh?“, antwortet er, ich frage noch mal: „Wo bin ich?“ Er zeigt auf meine Körpermitte und sagt: „Da natürlich!“, und ich denke: natürlich. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich mal rauchen müsste.

Als wir in der Einrichtung ankommen, lacht Kalle schon wieder. Der Film, erzählt er, habe ihm gut gefallen, das wolle er wieder machen, ins Kino gehen. Das sei lustig. Und gutes Essen gebe es da auch. Ich plündere den Schokoladenvorrat im Büro, und als Kalle zum dritten Mal erzählt, wie gut ihm das Kino gefallen habe, nicke ich. In ein paar Stunden werde ich verwundert feststellen, dass niemand während der zwanzigminütigen Krise seine Hilfe angeboten hat, dass auch keiner aus den Anliegerwohnungen die Polizei gerufen hat, dass niemand nach uns sehen kam. Ich werde darüber nicht unglücklich sein.

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