Protokoll einer Unterbrechung

Stottern als ein Teufelskreis. Vom Klischee des vermeintlich Unsicheren zur Wirklichkeit des Verunsicherten. Ein Tag mit der stotternden Susa K.

Teil der Therapie ist es, absichtlich zu stottern! Plötzlich fühlt sich Susa K. mächtig. Herrscherin über ihr Stottern

VON MARTINA RAPP

Letzte Gelegenheit vor der Zeugniskonferenz. Jetzt noch mal guten Eindruck machen. Und die drohende vier in Französisch abwenden. Der Subjonctif ist dran.

Susa K.* kennt die Verbformen im Französischen ganz genau. Ist ihr Lieblingsfach. Sie erinnert sich an die schönen Sommer am Atlantik. Die MitschülerInnen quälen sich. Wie war das noch? „Il faut absolument que tu … fais? … fasse?“ Keine weiß Antwort. Sie kennt sie. „Que tu fasses“, ist doch klar. Dennoch wünscht sich Susa K. weit weg. Sie wird sich nicht melden, sie meidet den Blick des Lehrers. Nicht dass er auf die Idee kommt, sie auch noch aufzurufen.

Zu spät. „Susa“, ruft er. Das Herz schlägt wild, Achselzucken als Antwort. Jetzt sprechen, das hätte stottern bedeutet. Bloß nicht. Nicht schon wieder.

Susa ist Stotternde. Es geht ihr wie vielen anderen, denen der Sprachfluss jederzeit stocken kann. Ein Prozent aller erwachsenen Menschen sind Stotternde. Quer durch alle sozialen Schichten und Kontinente. Auch die glücklichen Urvölker lebten eben niemals stotterfrei. Gestottert wird in allen Ethnien, es ist keine Zivilisationskrankheit hektischer Industriegesellschaften.

Bis in die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts waren psychosoziale Entstehungstheorien fürs Stottern im Trend. Die Beobachtung, dass viele Stotternde Sprechängste zeigen, wurde umgedreht zu der Hypothese: „Die sind ängstlich, also stottern sie.“ Mittlerweile konnte in Studien festgestellt werden, dass Stotternde nicht primär ängstlichere Persönlichkeiten sind als Nichtstotternde. Vielmehr entsteht ihre Unsicherheit auf negative (wenn auch gut gemeinte) Reaktionen auf das Stottern. Untersuchungen zeigten auch, dass Stottern nicht aus spezifischen Kommunikationsmustern in Familien resultiert.

Am Nachmittag geht Susa in die Stottertherapie. Gespräche sind dort auch mit Stottern machbar. Sich aussprechen wird möglich. Die Logopädin zeigt Verständnis. Sie weiß um die Flut von negativen Gefühlen, die durch Stottern ausgelöst werden können. Hier kann sie nach dem Ende des Wortes tasten, ohne Abwendung zu erleben. Wenn Stottern doch überall so gefahrlos möglich wäre.

Im Alltag ist das anders. Erst letzten Freitag waren in ihrer Clique heftige Diskussionen über die Klassenfahrt im Gange. Ihre Meinung hat keiner mitbekommen. Wie auch? Sprechen überlässt sie den anderen. Macht eher mal ganz kurze Bemerkungen. Außer wenn sie mit ihrer Freundin alleine ist. Da verflüssigt sich das Stottern. Wenn sie doch mal hängen bleibt, ist es beiden egal. Ihre Freundin versteht nicht, warum sie sich in der Schule so zurückhält. „Mensch, das kann dir doch egal sein, wenn die lachen, die sind doch sowieso komplett daneben.“ Die hat gut reden.

Die Wissenschaft bleibt nicht stehen. Interessant sind die Ergebnisse aus einer Studie von Hirnforschern um Martin Sommer (2002). Bei chronisch stotternden Erwachsenen sind die Verbindungen zwischen wichtigen Arealen der motorischen Sprechproduktion fragiler. Es geht also um die Steuerung der Sprechmotorik. Stottern als Bewegungsstörung, so einfach ist das. Die gedankliche Sprachplanung ist nicht betroffen.

Die Studie gilt als eine schlüssige Erklärung dafür, dass Stotternde in völlig stressfreien Situationen ihres Lebens durchaus in der Lage sind, fließend zu sprechen. Aber dass wenig schon ausreicht, um den Sprechfluss zusammenbrechen zu lassen. Etwa die eigene Angst vor der unterbrochenen Artikulation. Die neuroanatomische Struktur kann erklären, warum Erwachsene ihre Redeflussstörung nicht einfach so ablegen können.

Die Therapeutin gibt sich Mühe. Hat ein abenteuerliches Konzept: Absichtlich stottern! Au weia! Der Trick ist: Wer absichtlich stottert, hat alles unter Kontrolle und keine Angst dabei. Schön wär’s. Erst mal lockeres Stottern üben, fühlt sich gut an. Stottern ohne Angst. Wenn da was dran ist? Die Aufregung ist groß. Die Therapeutin als Vorbild. Klappt auch am Telefon. Absichtlich stottern beim Gemüsehändler. Gar nicht so schwer. Kaum Reaktion vom Händler. Warum eigentlich nicht? Das geht so leicht, ohne Verkrampfung: „E-ein Ki-ki-kilo Tomaten, bitte.“ Susa K. fühlt sich großartig, mächtig, Herrscherin über das Stottern.

Die Therapeutin ist zufrieden. „Angstabbau“ gelungen. „So können wir weiter vorankommen“, meint sie. „Das kannst du auch in der Schule schaffen.“

Abends im Theater. Zur Belohnung. Der Tag war hart genug. „Wintermärchen“, Shakespeare. Ein Stück mit Masken, Traumwelten. Wunderbar. Vergessen die Klassenfahrt, die Schule. Eintauchen in fremde Welten. Liebe und Eifersucht, Schönheit und Missgunst, Könige und Bauern. Und eines Tages ein Schiff, Kentern, ein Unglück, der Bauersknecht ist außer sich: „E-e-e- --- e-e-e-ein Schiff, i-i-i-i-i --- ist …“ Gelächter, das Publikum amüsiert sich. Findet es zum Brüllen komisch. Susa K. nicht, Sie sinkt tiefer in ihren Sitz. Ihr Gesicht glüht. Sie weiß: Was jetzt geschieht, ist der größte anzunehmende Unfall im Leben eines Stotternden. Und das auf der Bühne. Nichts geht mehr. Alle hören zu. Alles lacht.

Aber dem Bauerntölpel scheint das nichts auszumachen. Er spricht einfach weiter. Ist ja auch nicht der Schlaueste. Merkt der nicht, wie peinlich er ist? Eher eine Frohnatur, ein sonniges Gemüt, vielleicht ein bisschen beschränkt? Ist immer noch so debil fröhlich. Und jetzt bemüht er sich um eine Frau, das kann ja nur schief gehen. Kann nicht auf drei zählen, stottert, wie will der eine Frau verführen? Wie der nur an ihr rumhampelt, total verklemmt. Das Publikum hat seinen Spaß.

Susas Hirn stottert nicht. Es denkt. Es rast. Es kehrt in die Therapie zurück. „Nicht mit mir“, denkt Susa, „das Konzept kann sich die Therapeutin an die Backe kleben. Lieber spreche ich überhaupt nicht mehr!“

Die Wissenschaft forscht weiter, dennoch bleibt vieles im Dunkeln. Veränderungen der Neurophysiologie sind eine mögliche Ursache für die Störung. Aber woher kommen sie? Bislang weiß noch niemand, warum es zu solchen Strukturveränderungen kommt. Beginnen kleine Kinder aus irgendwelchen Gründen zu stottern und bilden dann die minimal defizitäre Hirnstruktur aus? Oder werden sie damit geboren und stottern deswegen? Neuere Studien legen eine erbliche Disposition nahe – die alleine aber nicht zum Stottern führen muss.

So weit ist die Umgebung der Stotternden noch lange nicht. Unter den Zeitgenossen hält sich ein Vorurteil hartnäckig. Der Mythos, dass Stottern psychologisch bedingt ist. In Filmen, Büchern oder in der Presse gelten männliche Stotternde als Synonym für unsicher, gehemmt, sexuell unattraktiv. Sie werden mit niedrigem Status skizziert. Der „Stotterer“ als der Schwache.

Der Psychologe Jürgen Benecken hat sich mit dem Stottererbild in den Medien befasst. Seine These: Wenn „Normalsprecher“ stottern, dann geht das mit Gefühlen von Schwäche, Peinlichkeit und Unsicherheit daher. Man denke nur an seine mündliche Abiprüfung oder an gestotterte Liebeserklärung. Diese Empfindung projiziert der Normalsprecher auf den Stotternden. Im Moment des Stotterns unterstellt er emotionale Überforderung. Das Bild eines – da häufig stotternden – meist emotional überforderten Menschen, also eines Neurotikers entsteht. „Die Katze beißt sich in den Schwanz“, folgert Benecken.

Die Medien benutzen die Zuschreibung gern – und verfestigen sie. Ein gestottertes Wort reicht aus, um Zuschauer zu erheitern oder einen unterlegenen Charakter zu skizzieren.

Wer mag da noch öffentlich stottern? Was kann Therapie da bringen, fragen sich die Betroffenen. Dabei ist Stottern in jedem Lebensalter in hohem Maße veränderbar. Therapie zählt. Ab einem gewissen Grad der Chronifizierung ist es allerdings nur schwer wieder völlig zum Verschwinden zu bringen. Dennoch bieten unseriöse Institute gegen Bares Heilungsversprechen an – von der Hypnose bis zum Crashkurs.

Die Realität ist eine andere. Therapieerfolge lassen sich mit viel Energie herstellen. In Kombination mit sprechmotorischen Therapieansätzen reduziert sich die Symptomatik drastisch. Aber nur, wenn es gelingt, die Angst vor dem Stottern abzubauen. Rückfälle gehören zum täglichen Brot. Völlige Stotterfreiheit bleibt für viele ein Traum. Umso wichtiger sind daher gesellschaftliche Bedingungen, die eine gelungene Kommunikation auch mit Stottern erlauben. Eine Kommunikation, die ohne wilde klischeehafte Zuschreibungen seitens der Zuhörer abläuft.

Die Realität verlangt nach neuen Bildern. Auch in den Medien müssen jene Stotternden endlich auftauchen, die es überall gibt. Den selbstbewussten Sprecher, der trotz Stotterns als kompetent wahrgenommen wird. Das könnte jugendlichen Stotternden den Rücken stärken. Würde ihnen helfen, selbstbewusst mit ihrer Sprechstörung umzugehen.

Wie Susa, die den nächsten Einsatz in der Schule nicht verpassen wird.

*Name geändert, Red.