Das war das Vorstadt-Paradies

In Norderstedt am nördlichen Stadtrand von Hamburg konnte sich trotz U-Bahn-Anschluss in die Großstadt jahrelang eine linke Szene halten – dank des selbstverwalteten Sozialen Zentrums. Jetzt droht der Abriss des alternativen Traumhauses mit Garten und allem, was man zum linken Leben braucht

aus NorderstedtDorothea Siegle

Der Weg ins Paradies führt durch die Toilette. Man betritt das Haus durch eine niedrige Tür, durchquert einen dunklen, hallenden Raum, in dem nichts ist als Altglas, dann muss man durchs Klo, quetscht sich also vorbei an der Kloschüssel, geht einen Gang hinunter und ist da: Ein Garten. Schmal und endlos lang, es leuchten Lagerfeuer und Fackeln, Menschen sitzen unter Bäumen, aus einem niedrigen Häuschen an der Seite dringt warmes Licht und Musik. Es gibt Nudelsalat und das Bier kostet nur einen Euro.

Es ist ein lauer Spätsommer-Abend und im Sozialen Zentrum Norderstedt feiern ein paar Leute ein Fest. Es wird eins der letzten gewesen sein, denn das selbstverwaltete Kulturzentrum in Schleswig-Holstein vor den Toren Hamburgs ist besetzt und soll geräumt werden. Am 31. August ist der Vertrag mit der Eigentümerin, der Stadt Norderstedt, ausgelaufen. Zehn Jahre konnten die jungen Leute das einstöckige weiße Vorderhaus, den großen Garten, die Hinterhäuschen umsonst nutzen, jetzt braucht die Stadt das Gelände für sich. Die baufälligen Häuser sollen abgerissen werden und Platz machen für Baumaschinen, die hier abgestellt werden sollen, wenn eine große Kreuzung in der Nähe umgebaut wird. Die Bauarbeiten beginnen zwar nicht vor Ende 2006, doch der städtische Baudezernent sagt, man müsse aber jetzt schon nachweisen, dass man über die Fläche tatsächlich verfüge. So schreibe es das Planfeststellungsverfahren vor.

Hier geht immer was

Die, die hier ein und aus gehen und jetzt im Garten sitzen und feiern, glauben, dass man sie schlicht loswerden will. Statt die Schlüssel zu übergeben, haben sie deshalb am 1. September ein Bett-Tuch mit der Aufschrift „Besetzt“ zur Straße hinausgehängt, die Fenster vernagelt und auch den Eingang zum Garten. Seitdem muss man durchs Klo, wenn man sie besuchen möchte.

Amelie* ist immer hier, wenn sie nicht gerade in einer Taxizentrale arbeitet. Amelie ist 26 Jahre alt, hat Sommersprossen und ein geringeltes T Shirt, und wenn sie etwas gut findet, sagt sie, „das ist der Hammer“ und unterstützt das mit einem erhobenem Daumen. Seit der Gründung 1995 kommt sie hierher, hat nicht nur gefeiert und über linke Politik diskutiert, sondern auch Strom gelegt und ein Klo eingebaut. Das Soziale Zentrum sei ihr zweites Zuhause, sagt Amelie. „Hier kannst du alles machen, was in einer Mietwohnung nicht geht. Mit zehn Leuten kochen. Mit 30 Leuten Spiele spielen.“ Einfach vorne klopfen, irgend jemand macht immer auf.

Und nun das „Generve mit dem Sack“, wie Amelie Norderstedts Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote von der CDU nennt, der das Ende ihres Nutzungsvertrags beschlossen hat. „Das ist reine Gehässigkeit von Grote, weil wir ihm politisch nicht in den Kram passen.“

Amelie kennt hier fast alle, oft kommen dieselben Leute, 60 sind es vielleicht an diesem Abend, durch die Nachricht von der Besetzung sind einige neue Gesichter dazu gekommen, die meisten aus Norderstedt. Zwei Männer in Lederjacken sitzen mit Amelie an der Bar, im Raum nebenan nicken Jungs in geräumigen Hosen zu Reggae-Musik, im Vorderhaus, auf der großen Terrasse im ersten Stock sitzen Punks in schwarzen Kapuzenpullis und Springerstiefeln und zeigen Norderstedt den Rücken.

Hamburg ist zu teuer

Zwischen einem Döner-Imbiss und einem Laden für Bodybuilder-Nahrung und Pornovideos steht das Soziale Zentrum, inmitten einer Stadt voll roter Backsteinhäuser. „Hier in Norderstedt gibt es mehrere große WGs in Einzelhäusern mit Garten – so etwas ist in Hamburg schwer zu bekommen“, erklärt Simon* auf die Frage, warum sich in so unmittelbarer Nähe zu Hamburg eine linke Szene etablieren konnte.

Simon ist einer der Sprecher des Sozialen Zentrums, er studiert an der Uni Hamburg Soziologie, und das Soziale Zentrum ist für ihn der einzige Grund, nicht nach Hamburg zu ziehen. Er sitzt am Morgen im Garten in der Sonne, trinkt Cola und erzählt die Geschichte dieses Ortes. Wie damals das „Häuserplenum Norderstedt“ in das Haus gezogen ist und den Betrieb des Sozialen Zentrums schon mal „ganz unbürokratisch“ aufgenommen hatte. Und wie die Besetzer dann kurze Zeit später von der Stadt einen Vertrag bekamen.

„Ja, es musste schon immer ein bisschen Druck gemacht werden, damit die hier in die Puschen kommen“, sagt Simon und lächelt. Raum einzufordern und Ideen von einem guten Leben zu verwirklichen – das klingt nach vorigem Jahrtausend und nicht nach einer Zeit, in der Sachzwänge und Verwertbarkeiten und Immobilienpreise die Diskussion bestimmen. Doch Simon spricht besonnen und selbstverständlich und man lehnt sich zurück unter dem Apfelbaum und ist ein wenig bezaubert von den Möglichkeiten des Lebens.

Party und Politik

Neben der Bar und dem Konzertraum gibt es im Sozialen Zentrum auch ein Fotolabor. Einen Frauenraum. Einen Computerraum. Wohnräume, hell und mit Holzdielen, in denen haben immer Menschen gelebt, Freunde des Sozialen Zentrums, das war nie erlaubt, aber immer üblich. Und Platz für die Gruppe „Avanti – undogmatische Linke“. Die wird vom Verfassungsschutz überwacht und will „RevolutionärInnen“ organisieren, um „patriarchale Herrschaftsstrukturen und die kapitalistische Produktionsweise“ zu überwinden, so schreibt sie es im Internet. Wie die sonnige Zukunft nach der Revolution dann aussehen soll, weiß Simon auch noch nicht so genau. „Bei uns sind Kommunisten, Anarchisten – wie es genau läuft, darüber kann man dann reden, wenn’s spannend wird.“ Bis dahin beschränkt sich Avanti erstmal auf Aktionen gegen Neonazis und Hartz IV.

Miete musste das Soziale Zentrum für all den Platz in all den Jahren nie bezahlen – nur die Kosten für Strom, Wasser, Heizung fielen an. Hier geht niemand freiwillig wieder raus. Etwas Neues hat es schwer. Die von den Vertretern der Stadt angebotenen Alternativ-Räume schienen dem Sozialen Zentrum nicht adäquat: Kein U-Bahn-Anschluss, zu klein, und der Konzertraum auch noch mit Teppichboden ausgelegt. Bürgermeister Grote findet die hohen Ansprüche vermessen. In einem offenen Brief schreibt er an die Betreiber des Sozialen Zentrums: „Auch andere Vereine haben Platzprobleme, Kostensorgen und Entwicklungsfragen. Wie müssen sich gerade diese Vereine fühlen, wenn hier mit derart zweierlei Maß gemessen werden soll?“

Paradies für Eingeweihte

„Redeverbot für Freter und Grote“ steht nun draußen an dem Gebäude, „Gegen Staat und Kapitalismus“, und: „Alle Gewalt geht vom Staate aus. Grote, halt‘s Maul.“ Anarchie-Zeichen, Gitter vor einem Fenster, schwarze Fahnen wehen – draußen. Drinnen: Menschen, die Sätze sagen wie: „Wir möchten miteinander zu tun haben und nett zueinander sein.“ Aber mit wem genau wollen sie zu tun haben? Wer in Norderstedt hat es gewagt, einen Blick in die zugewachsenen Fenster des Sozialen Zentrums zu werfen, an die verschlossenen Türen zu klopfen, an schwarzen Fahnen und anarchistischen Parolen vorbei zu stapfen und mitzufeiern auf den über 500 Quadratmetern Glückseligkeit – außer den immer gleichen Freunden? „Ja, wir haben es in den letzten Jahren verdaddelt, mehr Leute hier reinzuholen“, sagt Simon. Ein Ladenbesitzer aus der Nähe sagt: „Wenn bei anderen Leuten der Mietvertrag ausläuft, stehen die auf der Straße. Und die vom Sozialen Zentrum besetzen das Haus einfach. Die Stadt bezahlt das denen, die wohnen sogar noch drin und ziehen ihren persönlichen Vorteil daraus. Gerade die, die immer von sozialer Gerechtigkeit reden.“

Das Soziale Zentrum sucht nun selbst nach einer neuen Unterkunft – ohne die Hilfe der Behörden. Ein Haus in Norderstedt haben sie im Auge, vielleicht können sie es sogar kaufen, mit Direktkrediten von Freunden und Förderern und mit der Unterstützung von alternativen Wohnungsbau-Gesellschaften. Ist der Umzug dann nicht auch eine Chance? „Ja“, sagt Simon, „wenn wir ein neues Zentrum haben, das nicht der Stadt gehört, können wir unseren Unmut über die Politik viel lauter äußern.“

Die Stadt hat indes Räumungsklage eingereicht. Und wenn keine Einigung möglich ist und das Gericht dann entschieden hat, dann wird wohl irgendwann die Polizei vor der Tür stehen und die Besetzung beenden. Gewalt wollen die Besetzer nicht anwenden. Simon sagt: „Sie werden uns wegtragen und aufs Revier mitnehmen. Und wenn wir drei Stunden später wieder raus sind, werden wir uns alle hier treffen und zusehen, wie die Häuser fallen und ganz laut buh rufen.“

*Namen geändert