Neue Energie für altes Kraftwerk

Leerstand In einem alten Industriekomplex in Hammerbrook haben Kreative ein experimentelles Stadtteilbüro eröffnet. Dort wollen sie Erschließung des Hamburger Ostens kritisch begleiten

Haben eigentlich offene Ohren für Anwohner: Kreative in der Schaltzentrale in Hammerbrook Fotos: Miguel Ferraz

von Annika Lasarzik

Hammerbrook ist ein seltsam formloser Stadtteil im Hamburger Osten. Eine S-Bahnlinie schlängelt sich auf unförmigen Betonpfeilern an grauen Büro­türmen vorbei. Weiter östlich ragen wuchtige Backsteinindustriebauten empor, es gibt ein paar Autowerkstätten und Tankstellen. Für viele Hamburger ist diese Gegend eine tote Ecke. Und genau diese urbanen Einöden sind gut, um Neues zu schaffen: die Schaltzentrale, ein „experimentelles Stadtteilbüro“.

Dass KulturmacherInnen sich gerade hier niedergelassen haben, ist kein Zufall. „Wer im Kulturbereich selbst etwas auf die Beine stellen will, merkt schnell, was in Hamburg vor allem anderen fehlt: Räume“, sagt Dorothee Halbrock. Die junge Frau mit den kurzen Haaren grinst, halb spöttisch, halb resigniert.

Vor ein paar Jahren hat Halbrock das „Kunstcamp“ auf dem MS Dockville-Gelände in Wilhelmsburg aufgezogen und damit parallel zum jährlichen Festivaltrubel eine Spielwiese für junge Künstler geschaffen. Inzwischen organisiert Halbrock eigene Projekte – und ist auf einer Radtour mit Freunden eher zufällig auf das alte Kohlekraftwerk Bille gestoßen, mitten im Nirgendwo von Hammerbrook zwischen Fluss und S-Bahn-Gleisen. Um die Jahrhundertwende erbaut, ist es heute das älteste, noch erhaltene Kraftwerk Hamburgs. Von außen betrachtet lässt sich kaum erahnen, wie weitläufig das Gelände hinter der alten Backsteinfassade ist: 14.000 Quadratmeter, acht zum Teil miteinander verbundene Gebäude verbergen sich hinter den mit Efeu bewachsenen Wänden. Ein verwinkeltes Labyrinth aus alten Treppenhäusern und imposanten Hallen.

Seit ein paar Jahren lassen sich hier gelegentlich Künstler nieder, einzelne Räume werden als Ateliers genutzt. Doch der Großteil des Gebäudes steht leer. Langfristige Nutzungskonzepte, wie etwa eine von der Vorbesitzerin Vattenfall geplante „Oldtimer-Erlebniswelt“ scheiterten an der Insolvenz der zukünftigen Betreiber. Jahrelang blieb das Kraftwerk sich selbst überlassen und verfiel.

Doch jetzt tut sich was. In einem kleinen Nebengebäude des Kraftwerks, wo einst die Verwaltung ihren Sitz hatte, gibt es ein Café, eine Nähwerkstatt, Diskussionsräume. „Schaltzentrale“, strahlt es in leuchtenden Lettern am Eingang. Drinnen wirkt alles recht provisorisch, aber liebevoll eingerichtet: Der Tresen in dem kleinen Café ist selbst gezimmert, die Stühle, ein wildes Sammelsurium. Seit Juni hat der Verein „Viele Grüße von“, den Dorothee Halbrock und andere Kreative gegründet haben, hier 230 Quadratmeter angemietet. Das Ziel: In den kargen Räumen soll ein „Ort des Austausches“ entstehen. Jeden Freitagnachmittag wird zum offenen Nachbarschaftscafé geladen, ansonsten stehen alle Zeichen auf Anfang: Wer das Programm mitgestalten, etwa einen Workshop anbieten möchte, trägt sich auf einer Liste ein. So die Idee. Und damit sich das nicht nur im inneren Zirkel der Kreativen herumspricht, will der Verein NachbarInnen aus der Umgebung und Geflüchtete aus den anliegenden Unterkünften einbeziehen.

Die Schaltzentrale will eine Begegnungsstätte sein – in einem Stadtteil, der noch eine kulturelle Wüste ist, sich aber schon bald stark wandeln könnte. Denn mit dem Stadtentwicklungsprogramm „Stromaufwärts an Elbe und Bille“ ist der Hamburger Osten vor drei Jahren in den Fokus der Stadtplaner gerückt. Nach der Hafencity und den südlich gelegenen Elbinseln soll nun dieser Teil der Stadt attraktiver gemacht werden. Geplant wird in großen Maßstäben – passiert ist bisher wenig. Aber es heißt: Bis zu 20.000 neue Wohnungen könnten zwischen Hauptbahnhof und Mümmelmannsberg entstehen. Gerade in Hammerbrook, dem Raum für „Stadt­pioniere“, dessen „attraktive Wasser- und Grünflächen“ die Planer loben, soll neuer Wohnraum entstehen.

Im Café finden regelmäßig Nachbarschaftstreffs statt

Es sind Pläne, die den Osten der Stadt lebenswerter machen könnten – die Frage ist nur: für wen? Die Betreiber der Schaltzentrale üben zwar keine direkte Kritik an den städtischen Visionen, ihre eigenen klingen aber vorsichtig-distanziert. „Wir werden die Entwicklung Hammerbrooks nicht der Stadt allein überlassen und wollen die Veränderungen hier kritisch beobachten“, sagt Halbrock, auch „mögliche Verdrängungsprozesse“. Also wollen sich die Kreativen vernetzen, mit Anwohnern sprechen und deren Ideen und Kritik an die Behörden weitergeben.

Einen langen Atem haben die Macherinnen von „Viele Grüße von“ zumindest schon bewiesen. Bereits im Mai 2015 luden Halbrook und andere Kulturschaffende erstmals zu einem Hoffest aufs Gelände, im Herbst folgten dann die „Hallo Festspiele“. Ein Festival nach dem Do-it-yourself-Prinzip, ohne festgezurrtes Konzept: Bühnen und Kulissen wurden aus gesammelten Materialien selbst gebaut, Nachbarn und Gäste gestalteten das Programm mit. Das Prinzip lautet „Raumöffnung durch Kunst“. Die Kreativen arbeiten sich schrittweise vor: Durften sie anfangs nur die Außenflächen nutzen, wurde das Festival bei der zweiten Auflage ein Jahr auf ein paar Hallen ausgeweitet.

Dass Ideen in Sachen Stadtentwicklung gerade in dem alten Kraftwerk umgesetzt werden können, liegt wohl auch am Wohlwollen der Eigentümer. Seit zwei Jahren gehört das Gebäude dem Immobilienentwickler MIB Coloured Fields mit Sitz in Leipzig. Und der hat sich auf die „Revitalisierung geeigneter ehemaliger Industrieliegenschaften“ spezialisiert, will „nachhaltige Neubelebungen“ der Brachen ermöglichen, so heißt es im Unternehmenssprech.

Deckt sich das mit den Visionen der Schaltzentrale-BetreiberInnen? Man wird sehen. Die Räume für den neuen Stadtteiltreff dürfen sie mietfrei nutzen, der Mietvertrag ist halbjährlich kündbar. Sie seien „frohen Mutes“, dass sie drinbleiben können. Zumindest für ein weiteres Jahr. Denn während die großen Hallen des Kraftwerks seit 2011 unter Denkmalschutz stehen, ist das einstöckige Verwaltungsgebäude von Abriss bedroht: Es gibt Pläne der Eigentümer, ein sechsstöckiges Haus an gleicher Stelle zu errichten.

Auch die Finanzierung für die ersten neun Monate Betrieb der Schaltzentrale ist vorerst gesichert. Die Renovierung des alten Verwaltungsgebäudes unterstützt die Bezirksversammlung Hamburg-Mitte mit Mitteln aus dem Quartiersfonds und Sondermitteln: 89.000 Euro wurden bereitgestellt. Auch die „Stiftung Nachbarschaft“ des Wohnungsunternehmens SAGA GWG gibt Geld dazu. „Wir werden auch außerhalb Hamburgs nach Fördermöglichkeiten für das Projekt suchen, denn hier sind diese leider sehr begrenzt“, sagt Hal­brock. Neue Projekte in der Kulturszene würden von der Stadt schnell unterstützt, schwieriger sei es, ein Projekt „abseits des Kommerzes“ auch langfristig auf feste Füße zu stellen. Denn, so versichert die Kuratorin, an einem wollen die Kreativen festhalten: „Die Schaltzentrale und die Hallo Festspiele sollen auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel zugänglich sein.“

14.000 Quadratmeter Spielwiese mit ordentlich Industriecharme: das alte Kohlekraftwerk Bille

Und so soll auch bei den diesjährigen Hallo Festspielen – die vom 4. bis zum 7. und vom 13. bis 14. Oktober stattfinden – kein Eintritt verlangt werden.

7000 Quadratmeter werden diesmal im alten Kraftwerksbau bespielt, das Motto: „Auditive Raumwahrnehmung“. Mit Klanginstallationen und Audio­walks sollen die Besucher das Kraftwerk erkunden, die besondere Akustik der Hallen erleben.

Dass gerade kreative Projekte wie die Schaltzentrale und die „Hallo Festspiele“ die Aufwertung eines Viertels anregen und potenzielle Investoren anlocken könnten, sei ihnen bewusst, sagt Vereinsvorstand Halbrock. Wichtig sei, mit der Rolle der Aufwerter „offen und reflektiert“ umzugehen, ein kritisches Bewusstsein bei AnwohnerInnen zu schaffen – und auf den „ständigen Austausch mit Stadt und Vermietern“ zu setzen. Es ist ein trotziger Optimismus. 2018 wollen sie am Ufer der Bille eine Art Amphitheater errichten, Pontons auf dem Kanal aufbauen. Oder, wie Halbrock sagt: „Nach dem Kraftwerk erobern wir das Wasser. Selbst, wenn Teile des Gebäudes abgerissen werden, geben wir nicht auf. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Fläche zu nutzen – man muss nur zeigen wie.“