Mit beigen Westen schunkeln gehen

Literatur Pascal Richmann und Tucholsky erinnern bei einer Lesung der Rich Kids of Literature an das seltsame Gefühl, deutsch zu sein

Los geht es dann mit einer eher undeutschen, aber berlintypischen Verspätung

Wenn man in Berlin lebt und jung ist, kann es passieren, dass man Deutschland für mehrere Monate einfach vergisst. Man spricht so viel Englisch, dass Jens Spahns Oma längst nicht mehr mitkommt, fühlt sich ohnehin primär als Europäer, und bei dem Überfluss an wohlschmeckendem Fusion Food vergisst man nach einiger Zeit die Existenz von solch obskuren Gerichten wie Verlorenen Eiern und Königsberger Klopsen.

Meist kehrt die Erinnerung dann durch ein Fußballgroßereignis und die zu diesem Anlass an Balkonen und Autorückspiegeln angebrachten Flaggen zurück. Am vergangenen Freitagabend tat sie es stattdessen auf deutlich unterhaltsamere Weise, nämlich in Form einer Lesung, organisiert vom jungen Berliner Literaturkollektiv Rich Kids of Literature. Gemeinsam mit dem Korbinian Verlag und dem Literatur-, Kunst- und Musikmagazin Das Wetter hat die Gruppe zum achten Teil der Veranstaltungsreihe „Ist das noch Literatur?“ eingeladen, und nach früheren Veranstaltungsthemen wie Hass und Hahnenkampf geht es diesmal eben um Deutschland.

An einem kleinen Tisch verkaufen die Rich Kids Bücher und Zeitschriften, für jeden Einkauf gibt es einen Pfeffi obendrauf. Unter anderem kann man das im Korbinian Verlag erschienene Manifest „Ultraromantik“ erwerben, in dem Kollektivmitglied Leonhard Hieronymi auf lustige, aber keineswegs ironische Weise für mehr Romantik und Wahrheitsfindung durch Science-Fiction plädiert.

Richtig los geht es dann mit einer eher undeutschen, aber berlintypischen Verspätung von 20 Minuten und mit einer Rezitation von Thomas Braschs „Rede zur Annahme des Bayerischen Filmpreises“ von 1982. In dem vom Barhocker aus vorgelesenen Text geht es um den Widerspruch, die eigene künstlerische Arbeit durch staatliche Gelder zu finanzieren und doch mit gerade dieser Arbeit den Staat anzugreifen – einem Widerspruch, so schlussfolgert Brasch, dem sich Künstler nicht entziehen, sondern den sie lediglich illustrieren, ausleben und verschärfen können.

Es folgen Überlegungen zur deutschen Partygesprächskultur, Ausschnitte aus Mark ­Twains „The Awful German Language“ und einige Texte von Kurt Tucholsky. Zum Schluss setzt sich Pascal Richmann an einen Tisch, um aus seinem Buch „Über Deutschland, über alles“ vorzulesen. Richmann hat sich intensiv mit Deutschland auseinandergesetzt, hat Heinrich Heines Grab in Paris besucht, Burschenschaften beim Wartburgfest beobachtet, sich in hässlichen Modeboutiquen mit beigen Westen eingedeckt, Helmut Kohls Lieblingsrestaurant besucht und auf dem Niehler Ei, einem besonders großen Verkehrskreisel in Köln, gewohnt.

Mit diesem wunderbar trockenen Humor, den die junge deutsche Literaturszene für sich gepachtet hat, berichtet er nun von einem Partyabend auf Helgoland. Unter Seesternen, die von der Decke hängen, trinkt er Jever Fun, nimmt LSD, besucht die älteste Disko Deutschlands und ist beim Volksfest bemüht, sich bloß nicht vom Viervierteltakt des Schlagers abholen zu lassen. Das alles ist so rela­table, dass sich bald ein wohliges Unbehagen gegenüber diesem Land einstellt, ein Heimatgefühl, das sich mit der familiären Liebe zu einem etwas peinlichen Onkel vergleichen lässt.

Am besten beschreibt das Sentiment des Abends dann aber doch wohl Tucholsky: Die, die sich „national“ nennen, hätten dieses Land nicht für sich gepachtet. „Wir sind auch noch da. […] Wir pfeifen auf die Fahnen, aber wir lieben dieses Land“, schreibt er in seinem Buch „Deutschland, Deutschland über alles“, das er vier Jahre vor Hitlers Ermächtigung veröffentlichte. „Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. […] Man hat uns mitzudenken, wenn Deutschland gedacht wird.“

Donna Schons