Kampf gegen den IS im Irak: Der hohe Preis der Befreiung

Im Westen von Mossul herrschte bis vor Kurzem der „Islamische Staat“. Das Leben normalisiert sich vor Ort nur langsam.

Junge Frauen mit Kopftüchern lächeln

Ende Juli in Mossul: Mädchen freuen sich, dass die Schule wieder eröffnet wurde Foto: dpa

MOSSUL taz | Schon die Fahrt ist nicht einfach. Nach strengen Kontrollen geht es über eine Pontonbrücke zum westlichen Ufer des Tigris. Die Menschen müssen zu Fuß über diese Brücke. Im Ostteil Mossuls werden sie, die meist aus den Flüchtlingslagern zurückkommen, in Bussen zu der Brücke gebracht. Auf der andern Seite warten dann Taxis und Kleinlastwagen auf sie. Mit Handkarren schieben sie ihr Hab und Gut über die Brücke. Eine Spur von Normalität verbreiten spielende Kinder, die vom Rand der Brücke springen, um sich bei weit über 40 Grad im Schatten ein wenig in den Wassern des Tigris abzukühlen.

Auf einem Feldweg entlang einiger Bauernhöfe am Tigris geht es schließlich zur ersten großen Einfallstraße in den Westen der Stadt. Die endet abrupt auf der Seite des Flusses bei einer von fünf Brücken, die von der US-Luftwaffe zerbombt worden waren. Damit wollten sie verhindern, dass IS-Kämpfer von hier zurück in den schon befreiten Teil der Stadt kommen konnten.

Sofort wird deutlich, dass die Zerstörungen auf dieser Seite Mossuls wesentlich größer sind. Viele der Gebäude sind durch Luftangriffe oder Granateneinschläge zerstört. Hier sind wesentlich weniger Fahrzeuge auf der Straße unterwegs als im Osten. In den zerstörten Teilen lebt niemand. Einige wenige haben mit den Aufräumarbeiten begonnen. Aber so richtig können die Menschen erst damit anfangen, wenn die Armee ihre Häuser oder was davon übrig ist, für sicher erklärt. Dazu aber muss sie sie auf Sprengfallen des IS durchsuchen.

Im Mossul-al-Gedidia-Viertel lebt Abdallah al-Agha. Er ist so etwas wie ein Stadtteilältester, jemand, der in den Tagen des Krieges und der IS-Herrschaft versuchte, informell sein Viertel zu organisieren. Als der Westen Mossuls eingekesselt war, hatte al-Agha, ein Beamte des Religionsministeriums, geholfen, Nahrungsmittel zu organisieren und zu verteilen. Tagelang konnte er nur Joghurt auftreiben, mit dem sich ganze Straßenzüge am Leben hielten, erzählt er.

„Die Schießereien, die Bombardierungen und die Explosionen von den Selbstmordattentaten, das alles war zu furchtbar, als dass ich das hier beschreiben kann.“ Aber er legt auch ein bizarres Bekenntnis ab: „Es war irgendwie auch die schönste Zeit meines Lebens, denn noch nie zuvor haben die Nachbarn so zusammengearbeitet, sei es um sich gegenseitig zu versorgen, oder um sich gegenseitig Schutz zu bieten“, sagt er. „Noch nie habe ich so viel Menschlichkeit erlebt, wie in diesen schlimmsten Stunden.“

Abdallah Al-Agha

„Es war auch die schönste Zeit meines Lebens, denn nie zuvor haben die Nachbarn so zusammengearbeitet.“

Der Neuanfang aber sei schwer. Es gäbe immer noch kein fließendes Wasser, Strom kommt, wenn es denn überhaupt welchen gibt, von den Generatoren, die überall in den Straßen knattern. „Wir fühlen uns in Westmossul von der Regierung alleingelassen“, sagt al-Agha. Gleichzeitig zeigt er Verständnis, dass diese mit der Rückeroberung anderer IS-Gebiete noch andere Prioritäten habe.

Um zu zeigen, wie auch in Westmossul langsam wieder das normale Leben beginnt, führt er uns zur Tripolis-Mädchen-Schule. Das Gebäude ist leicht vom Krieg beschädigt. Das improvisierte Eingangstor besteht aus einem Gitterzaun. Im Schulhof erinnert ein zerschossenes Auto an die Kämpfe. Einige der Klassenzimmer sind immer noch nicht bezogen. Die Fenster sind zerbrochen, auf dem Boden liegen Scherben. Im Zimmer der Direktorin Fawzia Qassem zieht sich ein langer Riss die Wand entlang. Ein Überbleibsel der Druckwellen benachbarter Explosionen in den Zeiten des Krieges. „Eigentlich wären jetzt Sommerferien, aber wir geben einen Intensivunterricht in drei Schichten. Und das ohne Strom und Wasser bei bis zu 50 Grad Hitze. Wir haben praktisch bei null anfangen müssen. Wir haben selber aufgeräumt, die Schule hergerichtet“, erzählt sie fast ein wenig stolz.

Das größte Problem vor der Öffnung der Schule sei es gewesen, die Trümmer von der Straße wegzuräumen, damit die Schule überhaupt wieder erreicht werden konnte. Nach und nach sind dann Schülerinnen und Lehrer wieder zurückgekommen. In den zweieinhalb Jahren IS-Herrschaft waren nur wenige Mädchen in die Schule gegangen. Der IS hatte neue Lehrpläne gemacht und eigene Bücher eingeführt. Viele der Mädchen sind dann einfach nicht mehr hingegangen. Wer eigentlich in der neunten Klasse sein müsste, ist heute in der siebten. Und statt 30 Schülerinnen in der Klasse – wie in den Zeiten vor dem Krieg – befinden sich heute manchmal bis zu 90 in einem Klassenraum.

Scharfschützen des IS auf dem eigenen Dach

Im hinteren Teil der Klassenzimmer stehen die Mädchen, mit ihren Büchern in der Hand, weil es nicht genug Platz und nicht genug Bänke gibt. Die Schulen, die geöffnet haben, müssen die Schülerinnen aufnehmen, deren Schulen zerstört sind.

Trotz aller Schwierigkeiten ist der Enthusiasmus der Mädchen groß. „Ich bin aus einem der Flüchtlingslager gekommen. Als ich gehört habe, dass meine alte Schule wieder geöffnet hat, habe ich meinen Vater überzeugt, dass wir aus dem Lager wieder hierher zurückkommen, damit ich kein weiteres Jahr versäume“, sagt die 14-jährige Rafran Murshid. Sie sei sogar alleine nach Mossul zurückgekehrt, inzwischen ist aber auch der Rest ihrer Familie da. Sie möchte übrigens einmal Journalistin werden, sagt sie.

Viele der Schülerinnen hatten traumatische Erlebnisse während des Krieges. Die 15-jährige Schaher Maher hat mit ihrer Familie die gesamte Zeit der IS-Herrschaft und auch während des Krieges Mossul nicht verlassen. „Auf dem Dach unseres Hauses waren in den Kriegstagen IS-Scharfschützen stationiert“, sagt sie. „Wir waren wie menschliche Schutzschilder. Wir hatten wahnsinnige Angst, dass die amerikanischen Bomben auf unser Haus fallen. Wir haben das den Scharfschützen gesagt, aber das war ihnen egal.“ Der Eifer bei den Schülerinnen ist groß, nach all der verlorenen Zeit nun endlich durchzustarten. „Nach drei Jahren Rückständigkeit, Ignoranz und Zerstörung glauben wir daran, jetzt endlich voranzukommen und eine gute Ausbildung zu machen. Wir werden uns nie wieder einsperren lassen. Wir werden unser Land wieder aufzubauen“, sagt Rahma Muhammad. Ihr Berufswunsch: Krankenschwester.

Wer glaubt, dass sich die sichtbaren Zerstörungen an der Einfallstraße nach Westmossul nicht steigern lassen, der wird bei einer Einfahrt in die Altstadt eines Besseren belehrt. Die dortigen Gassen wirken wie eine Geisterstadt. Es bietet sich ein Bild der totalen Verwüstung. „Dresden oder Aleppo“, ist der Gedanke, der einem in den Kopf schießt, wenn man dort über die Straßen läuft. Der Preis für die Befreiung Mossuls ist hoch.

Die IS-Kämpfer hatten sich in den engen Gassen wochenlang zu ihrer letzten Schlacht verschanzt. Die irakische Armee mit ihnen Granatwerfern war ebenso wenig zimperlich, wie die US-Luftwaffe. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele Zivilisten, Soldaten und IS-Kämpfer hier in den Zeiten des Krieges umgekommen sind. Durch die Trümmer der Häuser zu wandern, ist zu gefährlich. Dort lauern immer noch nicht entschärfte Sprengfallen des IS. Kaum ein Haus ist nicht beschädigt, viele sind komplett in sich zusammengefallen. Den Einwohnern ist es deswegen bis heute nicht gestattet, hierher zurückzukehren. Zumal sich in den Ruinen immer noch einzelne Dschihadisten versteckt halten. Deshalb patrouillieren nur Einheiten der irakischen Bundespolizei und bewaffnete Männer der vorwiegend schiitischen Volksmilizen durch die Straßen. Nur sehr vereinzelt, sieht man Menschen, die nachsehen, was von ihrem alten Leben noch übrig ist.

Dschihadisten sprengten die Moschee

Einer von ihnen ist der ehemalige Ladenbesitzer Ismail Abed. „Weil hier die IS-Kämpfer verschanzt waren, wurde dieses Gebiet heftig aus der Luft bombardiert. Alle Geschäfte sind zerstört, auch mein Laden dahinten“, sagt er und deutet auf die Reste einer Ladenzeile. Ein paar uniformierte Männer, bewaffnet mit Kalaschnikows, gehen mit uns zum Herzstück der Altstadt: den Resten der 900 Jahre alten Al-Nouri-Moschee. Berühmt war sie für ihr schiefes Minarett und dafür dass der IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi hier den „Islamischen Staat“ ausgerufen hatte mit sich selbst als Kalifen.

Eine Videoaufnahme mit ihm auf dem Predigerstand, ist das einzige öffentliche bewegte Bild, das von ihm existiert. In den letzten Kriegstagen hatten die IS-Kämpfer die Moschee selbst in die Luft gesprengt – wohl mit der Absicht, ihren Gegnern diesen symbolträchtigen Ort nicht zu überlassen. Heute herrscht vollkommene Stille über den Trümmern der Moschee. Ein Teil des eingeknickten Minaretts liegt quer über der Ruine. Das Einzige, was noch steht, ist das Skelett eines Kuppelbaus.

Eine Straßenecke weiter überwacht ein halbes Dutzend uniformierter, bewaffneter Männer eine Straßenkreuzung. Sie haben sich auf dem Dach eines stark beschädigten zweistöckigen Hauses positioniert. Ein Deckenlager auf dem kahlen Betonboden zeugt davon, dass sie hier Tag und Nacht Wache halten. Tagsüber sei es ziemlich ruhig, sagen sie, „nur nachts ist es hier bis heute nicht sicher“. „Immer wieder kommen die IS-Ratten aus ihren Löchern und versuchen doch noch, aus der Altstadt zu entkommen. Das trauen sie sich nur nachts, denn sie wissen, dass sie bei Tageslicht sofort von uns erschossen werden“, sagt Rehab Nazem, seine Kalaschnikow hängt über der Schulter.

Die Männer gehören den vorwiegend schiitischen Volksmilizen an. Vorne am Rand des Flachdaches haben sie zwei Aluminiumwassertanks aufgestellt, die ihnen Schutz bieten sollen. Hinter dem Tank hält immer einer Wache, um die Kreuzung zu überblicken. Einer der Männer greift zu einem Koranexemplar, das auf dem Wassertank liegt und küsst das Buch. Das soll ihm Beistand gegen den IS gewähren.

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