Blutwurst fürs Sofa, Schinken als Sitzsack: „Fleisch polarisiert mehr als Obst“

Die Vegetarierin Silvia Wald stellt Wurst- und Fleischwaren aus Textilien her. Als Kunst. Und als Wohnaccessoires. Ein Gespräch über Stoffe und Inhalte

Silvia Wald in ihrer Friedrichshainer Textilfleischerei „Aufschnitt“ Foto: Joanna Kosowska

taz: Frau Wald, Sie haben sich in einer Fleischerei in Friedrichshain eingemietet und verkaufen dort Fleisch und Wurst aus Stoff. Sie sind aber Vegetarierin. Das müssen Sie erklären!

Silvia Wald: Ich habe mich nicht in der Fleischerei eingemietet, sondern die Fleischerei und ich haben uns gefunden. Als mir der Laden in der Boxhagener Straße angeboten wurde, wusste ich nicht, dass da früher eine Fleischerei war. Doch als mich die ehemaligen Besitzer spontan besuchten, erzählten sie mir von ihrer 40-jährigen Unternehmertätigkeit und ich war begeistert. Mir gefiel die kontroverse Idee, in einem Fleischereitraditionsgeschäft als Vegetarierin eine Textilfleischerei mit Theke und Fliesenwand aufzubauen.

Warum?

Fleisch ist ein starkes und faszinierendes Thema. Die Menschen lieben oder hassen es. Deshalb polarisiert Fleisch mehr als Obst oder Backwaren.

Was bei Ihnen für den Gaumen und Magen gar nicht funktioniert, funktioniert als textile Variante mit dem schönen Namen „Aufschnitt“ ganz wunderbar.

Ja, aber das war gar nicht meine Absicht. Es war eher so, dass ich Modellanfertigung und Schnittkonstruktion unter dem Namen „Aufschnitt“ am Markt anbieten wollte. Als Bekleidungstechnikerin habe ich ja viel mit Stoffen zu tun, man kann sagen, ich bin stoffsüchtig. Und in meinem Atelier gibt es viele Materialien, die der Oberfläche und dem Griff von Würsten sehr ähnlich sind.

Was für Materialien verwenden Sie, damit die Produkte möglichst realistisch aussehen?

Gebürstete Mikrofaser ist gut für den speckigen Griff beim Schinken. Weicher Baumwollnicki eignet sich wunderbar für die kuscheligen Nackenwürste. Die Wurstketten und Schlüssel­anhänger sind aus Lycra, weil das am besten die echte Wurstpelle nachempfindet. Und die großen Sitzsäcke sind aus Kunstleder.

37, Berufsausbildung zur bekleidungstechnischen Assistentin, Studium der Bekleidungstechnik an der HTW Berlin, 2008 Eröffnung eines Ateliers für Schnittkonstruktion und Modellanfertigung. Seit 2010 betreibt Wald in einer ehemaligen Fleischerei in Friedrichshain den Concept Store „Aufschnitt Berlin“, in dem die Vegetarierin textile Wurst- und Fleischkollektionen verkauft. www.aufschnitt.net

Wie fühlt sich die detailgenaue Herstellung von Fleisch und Wurst für Sie als Vegetarierin an?

Iiih, eklig, aber ich weiß ja, dass es kein Fleisch ist, sondern sich nur so anfühlt. Als Vegetarierin habe ich den nötigen Abstand.

Wie kam es überhaupt zu der Idee mit den textilen Fleisch- und Wurstwaren?

Auf Wienerle-Partys haben wir kostenlos Würstchen aus Stoff verteilt. Die kamen so gut an, dass ich Lust hatte, eine ganze Kollektion auszuprobieren. Und dann ging alles ganz schnell. Ein Freund baute einen Aufsteller in Fliesenoptik mit Metallhängestange als Verkaufspräsentation, den wir auf einem Designmarkt im Wedding aufgestellt haben. Davon hat eine Boulevardzeitung ein Foto veröffentlicht, und daraufhin lud mich „TV Total“ in die Sendung ein. Mit der Unterstützung des Gründercoachings entstand zum Fernsehauftritt die Webseite, und damit war „Aufschnitt“ in kurzer Zeit als Textilfleischerei bekannt.

„Die Reaktion ist immer gleich: Die Menschen sehen von der gegenüberliegenden Straßenseite das Geschäft, kommen rüber und fragen sich erstaunt: Hä, was ist das denn? Das ist ja alles aus Stoff! Und dann lachen sie.“

Wann und warum haben Sie aufgehört Fleisch und Wurst zu essen?

Das war ein schleichender Prozess. Ich kann mich noch gut an die 3. Klasse im Biologieunterricht in der DDR erinnern. Da gab es ein Buch mit einem Bild eines Rinderfinnenwurmes, der sich im Muskelgewebe einnistet. Das war ein erschreckender Moment für mich. Mit 16, 17 Jahren entschied ich mich dann gegen Fleisch und Wurst.

Sie nennen sich „weltweit erste Textilfleischerei“.

Das Nachbilden von Essen zieht sich ja durch die ganze Kunstgeschichte. Aber es gibt nur einen Laden, der diese Würste dem Privatkunden so zum Kauf anbietet, wie ich es mache. Eine schöne Mischung aus Kunst und Kommerz.

Wie reagieren die Menschen auf die Textilfleischerei?

Die Reaktion ist immer gleich: Die Menschen sehen von der gegenüberliegenden Straßenseite das Geschäft, kommen rüber und fragen sich erstaunt: Hä, was ist das denn? Das ist ja alles aus Stoff! Und dann lachen sie.

Sowohl Fleischesser als auch Vegetarier reagieren so?

Veganer lachen manchmal nicht. Es geht ja viel um Humor. Aber die Würste und das Fleisch aus Stoff sind auch Kunstgegenstände, mit denen man eine bestimmte Gestaltungsrichtung in seine Wohnung bringen kann. Wenn Fleischliebhaber kommen, um ein Geschenk für Veganer zu kaufen, spielt auch Ironie eine große Rolle.

Wie viele Produkte bieten Sie zu was für Preisen an?

Es sind knapp 100 Produkte. Das Angebot reicht von kleinen Ansteckwürsten für 7,50 Euro über große Nackenrollen in Form einer Blutwurst oder eines Bierschinkens für 46,50 Euro und Schinken als Seitenschläfer­kissen für 56,50 Euro bis zu einem anatomisch korrekten Herz aus hochwertigem Baumwollsamt für 79,90 Euro oder einem großer Schinken-Sitzsack für 320 Euro.

Stellen Sie alles selber her?

Wir haben lange Zeit alles selber gemacht. Heute fertigen wir ausschließlich Einzelanfertigungen, Prototypen oder Mikroserien in unserer Werkstatt, alles andere ist ins europäische Ausland ausgelagert.

Gibt es Wurstsorten, die textil nicht funktionieren?

Die Gestaltung mit Stoffen und die nähtechnische Verarbeitung haben Grenzen. Geeignete Stoffe sind in kleinen Mengen nicht immer erhältlich, oder es kann passieren, dass wir ein tolles Produkt haben, aber der Stoff nicht mehr nachbestellbar ist. Und manchmal müssen wir von Veredlungstechniken absehen, da sonst das Produkt zu teuer wird. Ein gutes Beispiel ist die Hühnerkeule. Es gibt einen ganz aufwendigen Druck, um die gerupfte Hühnerhaut darzustellen. Doch der ist leider zu teuer.

Auf Ihrer Homepage steht, dass Ihre Produkte „mit Original­materialien der Fleischbranche abgerundet werden“. Was ist damit gemeint?

Die Netze der Salamis sind solche, wie sie auch für die Wurst­industrie verwendet werden. Außerdem verwenden wir das Original rosa Einpackpapier. Und Fleischerhaken dürfen auch nicht fehlen.

Denken Sie darüber nach, die Produktpalette zu erweitern?

Ich würde gern mehr im Kunstbereich arbeiten und denke an eher außergewöhnliche große Objekte für Galerien, Messen etc., wie etwa eine Rinderhälfte oder einen Schweinekopf. Außerdem würde ich gerne noch mehr Techniken ausprobieren, um das Echte zu imitieren.

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