Nach dem Messerangriff in Sibirien: Russische Desinformationspolitik

In Surgut verletzte ein Angreifer sieben Menschen. Vieles spricht für einen islamistischen Anschlag. Die Ermittler wollen von Terror nichts wissen.

Polizisten stehen am 19.08.2017 in Surgut (Russland) an dem Ort eines Messerangriffs neben einer auf dem Boden liegenden Person.

Nach dem Angriff am Samstag im russischen Surgut Foto: dpa

MOSKAU taz | Nach den Terroranschlägen in Barcelona, Cembrilo und im finnischen Turku Ende vergangener Woche lief auch im westsibirischen Surgut am Samstag ein Attentäter Amok. Sieben Menschen verletzte der aus der nordkaukasischen Republik Dagestan stammende Täter mit Messerstichen zum Teil schwer.

Das russische Ermittlungskomitee (EK) nahm sich des Vorfalls sofort an, weigert sich jedoch, einen terroristischen Hintergrund einzuräumen. Offiziell gehen Moskaus Ermittler vom Tatbestand des „versuchten Mordes in mehreren Fällen“ aus. Statt Terror wird dem 19-jährigen Artur Gadschiew unterstellt, seit längerem psychisch auffällig und instabil gewesen zu sein. Gadschiew wurde auf der Flucht von der Polizei hinterrücks erschossen.

Die Informationspolitik der russischen Behörden führte noch am Samstag dazu, dass Hunderte Einwohner des westsibirischen Erdölzentrums die Stadt Hals über Kopf verließen, berichteten Augenzeugen der Nowaja gaseta.

Russland blieb indes bei der ursprünglichen Version. Auch Erkenntnisse aus dem Umfeld des Attentäters änderten nichts daran. Gadschiews Vater wird als militanter Wahhabit aus Dagestan von russischen Sicherheitsbehörden gesucht. Sohn Artur fiel in Sibirien Bekannten und Arbeitskollegen durch besondere Religiosität auf.

Zu wenig Indizien

Der 19-Jährige lebte seit einiger Zeit bei Mutter und Stiefvater im Kreis Chanty-Mansijsk im sibirischen Norden. Erst im letzten Jahr war Gadschiew aus dem Nordkaukasus übergesiedelt. Die Ermittler stießen bei der Leiche auf Symboliken und Hinweise des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS), der auch Verantwortung für den Überfall übernommen hatte. Die Ermittler sehen darin jedoch keine ausreichenden Indizien.

Staatliche russische TV-Sender berichteten über den Anschlag am Samstag unmittelbar nach dem Vorfall. Danach verschwand Surgut wieder aus den Nachrichten.

Russlands ausführliche, mehrstündige Wochenrückblicke am Sonntagabend, die verschiedene landesweite Kanäle ausstrahlen, fanden ebenfalls keinen Platz für einen Bericht. Stattdessen wurde über die Terrorakte in Katalonien und nach Europa drängende afrikanische Migranten berichtet. Auch die deutschen Bundestagswahlen waren ein Thema sowie das Festival der Pyrotechniker in Moskau.

Die regierungsnahe Zeitung Iswestija tat sich ebenfalls schwer mit der Einordnung des Geschehens. Zwischen psychischer Störung und der Tat eines Nachahmers bewegten sich die Spekulationen des Blattes. Als einen Grund nannte die Iswestija Kürzungen im Gesundheitswesen. Demnach sind stationäre Aufenthalte für psychisch labile Patienten im Budget kaum noch vorgesehen.

Eigene Terrorbasis

Grundsätzlich bemüht sich Moskau um eine breitere Allianz im Kampf gegen den Terror des IS. Empfindlich reagiert es indes auf Ereignisse, die mit der eigenen im Land beheimateten Terrorbasis zu tun haben. Sie reicht bis zu den beiden Tschetschenienkriegen in den 1990er und Nuller-Jahren zurück.

Moskau will unterdessen nicht eingestehen, dass der islamische Terror Russland genauso im Blick hat wie die Länder der EU. Dieser unterstellte Moskau bislang, durch die Flüchtlingspolitik den Terror eigenhändig ins Land geholt zu haben. Der Kreml suggeriert hingegen: aus Sorge um die Sicherheit für seine Bürger lasse er Flüchtlinge nichts ins Land.

Die russische Desinformationspolitik erklärt sich auch aus einer dunklen Vorahnung. In den wohlhabenden Städten Westsibiriens wächst eine junge Generation von Muslimen heran, die nicht integriert werden konnte. Deren Eltern waren als Arbeitsemigranten vor 20 Jahren in die Region gekommen.

Das Vertrauen, das die zweite Generation offiziellen Vertretern des Islam entgegenbringt, sei gering, meint Soziologe Denis Sokolow von der Akademie für Volkswirtschaft beim Präsidenten in Moskau. Sie seien daher empfänglich für Verheißungen der „Google-Scheichs“. Hunderte junge Muslime aus Sibirien seien in der Vergangenheit von dort aufgebrochen, um in Syrien für einen Gottesstaat zu kämpfen.

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