München Jess Jochimsens „Abschlussball“ gibt Hoffnung, dass das Leben zu schaffen ist
: Die Reste der Schwabinger Boheme

Hinter dieser Mauer an der Ungererstraße liegt der Münchner Nordfriedhof Foto: Kien/Agentur Focus

von Andreas Rüttenauer

In München wird gestorben. Und beerdigt erst recht! So traurig der Anlass sein mag – wenn es solche Beerdigungen wirklich gibt, wie sie Jess Jochimsen in seinem neuen Roman beschreibt, dann möchte man am liebsten jeden Tag auf den Friedhof gehen. Als „Vergessene“ bezeichnet er die Trauergäste jener Beerdigung, mit der in seiner Geschichte alles anfängt, als „von der Gesellschaft Ausgesonderte“.

Zur Bestattung eines gewissen Wilhelm Schocht waren „die verbliebenen Reste der Schwabinger Boheme und sämtliche Streicher, Verrückte und Faktoten“ Münchens erschienen – das andere München, wenn man so will. Das München, das auf den ersten Blick nicht zu finden ist, das arschlochfreie München, jener Teil dieser vergeldeten, vertrachtelten und sich selbst genügenden Stadt, der viel zu selten wahrgenommen wird. Jochimsens Abschlussball ist eine leise Hymne auf ein Münchner Leben in Würde, zu dem der Tod eben auch gehört.

Leicht gemacht hat es sich der Autor nicht mit der Geschichte. Ein Musikant für Trauerfeiern, dem bei der Beerdigung eines ehemaligen Mitschülers das alte Leben einholt und dem es dadurch irgendwie gelingt, zu sich selbst zu finden, obwohl er zugleich grandios daran scheitert. So wie der Grabredner bei jener Beerdigung mit seiner Rede eigentlich scheitern muss, weil er niemanden gefunden hat, der ihm etwas über diesen Wilhelm Schocht erzählen konnte, zu dessen Grabgang die halbe Unterwelt aufgeschlagen ist. Und doch gelingt ihm eine Rede.

Es wird gestorben

Schon ist man mitten drin in diesem München, das nichts mit Siemens, BMW oder gar dem Oktoberfest zu tun hat. „Wer war Wilhelm Schocht? Könnte es der Kollege gewesen sein, der zuverlässig auf unsere Sachen im Park aufgepasst hat, als wir am Viktualienmarkt Nassauern waren? Oder der bei der Schlägerei am Giesinger Bahnhof dabei war, letzten November? Der uns rausgehauen hat? War Wilhelm nicht der Kauz, der sich am Neubruch oder an der Ingolstädter Straße herumgetrieben hat und immer weggelaufen ist, wenn die Nutten ihn ansprachen?“ Dieses hässliche München hat selten einer so schön beschrieben. Man betritt Geschäfte, die es nicht mehr gibt, mit verstaubten Anzügen, die keiner mehr tragen will, in Vierteln, deren Namen die jungen Münchner nicht mehr kennen. Man zieht ein in die Untermietkammer bei Frau Berger, und es stört zumindest beim Lesen kein bisschen, dass man kein Badezimmer hat.

Natürlich ist ein Roman, dessen Hauptmotiv Beerdigungsmusik ist, auch ein bisschen traurig. Er ist sogar ziemlich traurig. Es ist nicht nur gestorben worden, es wird gestorben. Es trifft mit Sebastian, den besten, den eigenartigsten, den Geiger, der am Grab so gut war, dass man am liebsten umgehend sterben würde, damit dessen Musik am eigenen Grab erklingt. Da weinen Menschen, die noch nie geweint haben und Erinnerungen steigen hoch, so dass die Augen feucht werden. Aber keine Angst. Kitschig wird es nie in der Geschichte, in der die arg in die Jahre gekommene Vermieterin des Trompeters, um den sich die Story dreht, ganz wehmütig erzählt, dass sie bei ihrem Klassentreffen im Dürnbräu den Moosacher Karl wiedergegeben habe.

Es ist eher eine Gebrauchsanweisung für Melancholie, die Jochimsen da hingelegt hat. Und wer Jochimsen kennt, weiß, dass der am liebsten nichts anderes machen würde, als sich durch die Tage zu melancholieren. Sein Buch gibt Hoffnung, dass das Leben irgendwie zu schaffen ist, auch wenn man den Tag, an dem einen der eigene Vater, der sowieso nie viel mit einem anfangen hat können, irgendwann mit dem falschen Namen anredet. Auch ein wenig neidisch macht die Geschichte auf all die Menschen, die Musik leben können. Wer Argumente braucht, weil irgendjemand sagt, dass die Musik von Helene Fischer, die sich immer mehr Menschen als Beerdigungssound wünschen, dass diese Musik gar nicht so schlecht ist, der bekommt von Jochimsen eine kleine Handreichung. Treffender kann eine musikalische Abrechnung nicht sitzen.

Was in der Geschichte dem Trompeter Marten passiert, als er auf der Beerdigung seines Freundes dessen Bankkarte auf dem Kiesweg findet, es nicht lassen kann, sich einen Kontoauszug mit dem Kärtchen zu holen, via Onlinebanking das Minus von etwas über 3 Euro ausgleicht, führt ihn zu besonderen und stinknormalen Leben, ins Vorstadtreihenhaus genauso wie zu einem unvermittelten Reichtum, den er so schnell es geht wieder loswerden möchte. Es führt ihn durch München. Wer sich in dieser Stadt schon mal gelangweilt hat, wird kaum glauben, was dort möglich ist, was man sich über die Stadt zumindest ausdenken kann. “Abschlussball“ ist Flanierlektüre. Es ist ein schöner Spaziergang.

Jess Jochimsen: „Abschlussball“. dtv, München 2016. 312 Seiten, 20 Euro