Berlins grüne Spitzenkandidatin: „Für Jamaika fehlt mir die Fantasie“

Lisa Paus setzt inhaltlich auf Wohnungspolitik. Sie will eine Begrenzung der Mieterhöhungen „ohne Ausnahmen“ und eine rot-rot-grüne Koalition.

„Ich bin eine Kämpferin“: Lisa Paus im Gespräch mit taz-Redakteur Stefan Alberti Foto: Miriam Klingl

taz: Frau Paus, können Sie sich noch erinnern, wer vor Renate Künast Spitzenkandidatin der Berliner Grünen für die Bundestagswahl war?

Lisa Paus: Klar, das war Andrea Fischer.

Ich musste das erst einmal nachgucken, weil das fast 20 Jahre her ist, schier eine Ewigkeit. Da kann man schon von einer Künast-Ära sprechen – macht Ihnen das Druck als neuer Spitzenkandidatin?

Es ist ja klar, wenn ich mit Renate unterwegs bin, dann ist sie bekannter als ich – aber das ist ja auch kein Wunder. Sie war ja nicht nur Spitzenkandidatin, sie war Verbraucherschutzministerin, hat die Republik in dieser Rolle geprägt, hat hier in Berlin die Grünen mitgegründet. Daran messe ich mich genauso wenig wie an Christian Ströbele – das ist eine andere Generation mit einem anderen Bekanntheitsgrad, da wäre ich mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn ich mich da vergleichen würde. In den Positionen, in denen ich war, habe ich wohl einen ganz guten Job gemacht, deswegen haben die Parteimitglieder mich ja zur Spitzenkandidatin gewählt – und die wollten wohl auch mal eine andere Person vorne sehen.

Was ist in der neuen Rolle anders als bei Ihren bisherigen zwei ­Bundestagswahlkämpfen, 2009 und 2013?

Als Renate die ersten Male Spitzenkandidatin war, gab es noch keine offiziellen bundesweiten Spitzenkandidaten. Joschka Fischers herausgehobene Rolle war ja noch eine inoffizielle. Da hatten die Landesspitzenkandidaten eine andere, stärkere Rolle. Seither aber ist das anders – ich werde nicht landesweit plakatiert, sondern nur hier in meinem Wahlkreis in Charlottenburg-Wilmersdorf. Aber es ist natürlich so, dass ich als Spitzenkandidatin die erste Medienansprechpartnerin bin, sonst säßen wir ja hier auch nicht zusammen.

Ein kurzer Blick zurück: Bettina Jarasch, die langjährige Landeschefin, wollte auch gern Nummer eins werden, verlor aber gegen Sie. Was überraschte, weil das Ergebnis so überdeutlich war, obwohl Jarasch stets mit guten Ergebnissen zur Vorsitzenden gewählt worden war und als beliebt galt. Was gab den Ausschlag?

Ich bin wahrscheinlich stärker als Bettina Jarasch komplementär zu den beiden bundesweiten Spitzenkandidaten …

komplementär, weil Sie im Parteischema links einzuordnen sind, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt hingegen als Realos?

51, ist seit 1995 Grünen-Mitglied, seit 1999 Mitglied des Abgeordnetenhauses und seit 2009 Bundestagsabgeordnete. Die Diplom-Volkswirtin und ­Finanzexpertin ist Mitglied des Finanzausschusses.

Ich stehe halt für klassische Berliner Themen, vor allem bezahlbare Mieten, mit denen ich mich in den vergangenen vier Jahren beschäftigt habe, Kinderarmut, das grüne Konzept der Kindergrundsicherung, das Familienbudget, das habe ich entwickelt. Bettina Jarasch war 2016 ins Spitzenteam für die Abgeordnetenhauswahl gewählt worden, da war vielleicht der eine oder andere irritiert über diesen schnellen Wechsel von der Spitzenkandidatin fürs Abgeordnetenhaus zur Spitzenkandidatin für den Bundestag. Es gab auch Journalisten, die gesagt haben: Da komm ich so schnell nicht mit …

Einer davon sitzt Ihnen gerade gegenüber.

… und dieses Gefühl war wohl breiter vorhanden, als Bettina Jarasch es gedacht hatte.

Es war ja nicht Ihre erste Kampfkandidatur – 2009 entschied es sich zwischen Ihnen und der Kulturexpertin Alice Ströver, wer den letzten aussichtsreichen Platz für den Bundestag bekam. Ist das Ihr Ding, dieser offene Wettstreit?

Ich suche nicht den Konflikt, wenn er nicht sein muss. Aber es ist schon so, dass so eine Situation etwas bei mir mobilisiert. Ich bin eine Kämpferin.

In der jetzt zu Ende gehenden Wahlperiode haben Sie entscheidend mithelfen können, dass aus dem Dragonerareal in Kreuzberg kein Luxusquartier wird. War das Ihr größter Erfolg, oder ist der nur am bekanntesten geworden?

Aus meiner Sicht wird das davon getoppt, dass ich mithelfen konnte, eine unsinnige und milliardenteure Steuersubvention für Vermieter zu stoppen – was nicht so breit wahrgenommen wurde, weil sie ja eben nicht gekommen ist. Das hätte für viele in Berlin sehr negative Konsequenzen gehabt.

Acht Jahre im Bundestag, zuvor zehn im Abgeordnetenhaus – wo lässt sich aus Ihrer Sicht mehr politisch bewirken?

„Rot-Rot-Grün ist die einzige Möglichkeit, einen wirklichen Politikwechsel hinzubekommen.“

Ist doch klar: im Bundestag, sonst würde ich ja nicht kandidieren – ich bin ja nicht dahin abgeschoben worden.

Nein, aber manche Bundesparlamentarier beklagen auch, sie seien von alltäglichen Fragen zu weit weg.

Stimmt, Katrin Lompscher etwa [Senatorin und Abgeordnete der Linkspartei, d. taz] hat mir mal gesagt, sie würde im Leben nicht im Bundestag sitzen wollen – sie wolle immer direkt vor Augen haben, was sie verändert. Bei mir ist das anders: Mir war schon in der Schule Mathe immer lieber als Physik. Ich sehe zum Beispiel, wie und warum die Mietpreisbremse der Großen Koalition die Mieten in Berlin erhöht und nicht gesenkt hat, und will deshalb eine Begrenzung der Mieterhöhungen ohne Ausnahmen. Mietrecht ist Bundesrecht.

Bevor Sie nach Berlin kamen, um Volkswirtschaft zu studieren, sind Sie im Emsland aufgewachsen, wo Ihre Eltern eine Maschinenfabrik mit 300 Mitarbeitern aufbauten. Haben Sie da grünes Denken einbringen können – oder sagt Ihre Familie: Mach du mal deine Grünen-Politik, wir machen hier unser Ding?

Ich muss gestehen, dass mein Einfluss nicht groß ist – ich bin ja auch die Jüngste. Sowohl mein Vater als auch einer meiner Brüder sind in der CDU und haben auch Gemeindepolitik gemacht. Das heißt aber nicht, dass wir nicht diskutieren, und natürlich ist dafür gerade im Maschinenbau Bedarf, weil die Maschinen, bei der Firma für den Bergbau, alle mit Diesel laufen. Mein Vater und ich diskutieren da seit Längerem andere Antriebsmöglichkeiten – der hat da auch immer ziemlich rumexperimentiert. Das Problem ist, dass er keine anderen Motorenhersteller findet, er selbst baut ja nur die Maschine drum herum. Wir haben uns auch bei der E-Mobilität umgeschaut – aber zu der Zeit saß der einzige Hersteller in Frankreich. Auf dem Dach der Firma Paus steht übrigens eine Photovoltaik-Anlage.

Hatten Sie bei den Grünen jemals Probleme als Unternehmertochter? War das ein Makel?

Ich glaub nicht, dass das alle in der Partei wissen. In den Anfangsjahren war ich schon bemüht, dass das nicht im Vordergrund stand und ich als eigenständige Person wahrgenommen wurde. Es ist höchstens mal aufgefallen, weil Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus überrascht waren, wenn wir Unternehmer trafen und ich deren Sprache sprechen konnte. Viele hatten mich einfach nur als links eingeordnet, und das schien wohl manchem nicht vereinbar mit dem Gedanken, dass ich auch von Wirtschaft und Unternehmertum Ahnung haben könnte. Michaele Schreyer …

Senatorin und später EU-Kommissarin

… fürchtete anfangs, ich sei doch eigentlich eine verkappte Neoliberale, weil ich bei kommunalen Unternehmen damals der Ansicht war, dass der Staat für die Daseinsvorsorge zuständig ist, dass er aber nicht alles selbst machen muss und dass ich da durchaus gern mehr Wettbewerb zum Vorteil der Verbraucher hätte.

Im Dieselskandal müssten doch die Umfragewerte einer Partei, als deren Kernkompetenz Umwelt gilt, durch die Decke gehen. Vielleicht nicht wie nach der Fukushima-Katas­trophe, aber doch weit über die derzeitigen 8 Prozent hinaus.

„Einen Herrn Lindner als Finanzminister will ich definitiv nicht.“

Atomkraftwerke abzuschalten ändert an der konkreten Lebenssituation des Einzelnen erst einmal weniger als Fahrverbote in Innenstädten. Leider haben wir uns ja schon an diese Gesundheitsschäden gewöhnt. Wenn wir Grünen jetzt noch mal sagen, dass 10.000 Menschen pro Jahr früher sterben wegen der Stickoxide und dass diese Zahl doppelt so hoch ist wie die der Verkehrstoten, dann hören die Leute das zwar, aber konkret haben viele nur im Kopf, dass ihnen ein Fahrverbot Probleme machen könnte.

Sie waren auch an den Verhandlungen zu Rot-Rot-Grün in Berlin beteiligt, und viele sahen und sehen die als Blaupause für solch ein Bündnis auf Bundesebene. Sie auch?

Ja, auf jeden Fall. Es ist die einzige Möglichkeit, einen wirklichen Politikwechsel hinzubekommen.

Und was ist mit den oft angeführten Vorbehalten wegen der außen- und sicherheitspolitischen Positionen der Linkspartei, die nicht auf Landesebene, wohl aber in einer Bundesregierung relevant wären?

Darüber muss man reden, das muss man ausloten. Leider haben die SPD und Martin Schulz diese Möglichkeit nach gutem Auftakt versemmelt, gerade durch das Schweigen während des NRW-Wahlkampfs …

weshalb Rot-Rot-Grün derzeit nur auf 41 Prozent käme. So bleiben den Grünen nur zwei Möglichkeiten: mit Union und FDP zusammen zu gehen oder sich weiter eine schwarz-rote Koalition von der Opposition aus anzusehen. Was ist weniger schlimm?

Wir haben gesagt, dass wir mit allen demokratischen Parteien sprechen – wobei die AfD klar nicht demokratisch ist. Entscheidend ist jetzt, wer die dritte Kraft bei dieser Bundestagswahl wird: die Linkspartei, die FDP, die AfD oder wir Grüne. Alle liegen gerade Kopf an Kopf bei 8 Prozent. Und dann kommt es tatsächlich auf die gemeinsamen Inhalte an.

Und wie sieht es aus bei den Gemeinsamkeiten?

Ich habe darüber nachgedacht, was auf dem Tisch liegen müsste, damit eine Jamaika-Koalition mit Union und FDP funktionieren könnte – und mir fehlt bisher die Fantasie, mir das für vier Jahre vorzustellen: Da muss ich nur an einen Herrn Seehofer denken, der eine Obergrenze für Flüchtlinge ins Grundgesetz schreiben will. Und eine FDP, die in NRW gerade die Windkraft völlig ausgehebelt hat und vor allem die Bestverdiener entlasten möchte. Einen Herrn Lindner als Finanzminister will ich definitiv nicht.

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