Wenn die Toten auferstehen

ILB 9 Shumona Sinha und Hari Kunzru beschwören auf dem Literaturfestival die Geister Verstorbener

Shumona Sinha ist eine Frau der starken Farben und der klaren Worte. Vor dem Hintergrundschwarz der Bühne leuchtet ihr langer roter Faltenrock warm unter dem Tisch hervor. Die indischstämmige Autorin, die seit 16 Jahren in Frankreich lebt und auf Französisch schreibt, mag zwar wie alle anderen KollegInnen bei ihrer Lesung gesittet zwischen Moderator (an diesem Abend: Knut Elstermann) und deutscher Vorleserin (wie an vielen Abenden: Regina Gisbertz) am Podiumstisch sitzen. Aber nicht nur der Rock, auch Sinhas pointierte, gestenreiche Sprechweise bewirken, dass eine hochenergetische Aura sie zu umgeben scheint.

Furchtlos und feinfühlig

Als Autorin jedenfalls scheint die 44-Jährige furchtlos zu sein, wie sie schon mit ihrem Debütroman „Erschlagt die Armen“ zeigte, der im Jahr 2011 in Frankreich für großen Aufruhr sorgte – und Sinha ihren Job in der Ausländerbehörde kostete. Auch ihr neuester Roman „Staatenlos“ ist harter Stoff, wie sich an diesem Freitagabend feststellen lässt. Er erzählt die Geschichte von drei Frauen, von denen eine zu Romanbeginn bereits tot ist – in Bengalen ermordet, weil sie es gewagt hat, sich der Vertreibung einer Gruppe von Kleinbauern von ihrem Ackerland entgegenzusetzen. Im Roman ersteht sie gleichsam in poetischer Form wieder auf.

Mit klarer Diktion und feinem Gespür für Nuancen in den Dialogen liest Regina Gisbertz zwei Szenen aus ihrer Vorgeschichte. Eine davon spielt in der lokalen Parteizentrale der bengalischen Kommunisten, wo die junge Frau mit ihrem Anliegen nicht nur rüde abgekanzelt, sondern sogar latent bedroht wird. Sie selbst sei ja immer noch Marxistin, erklärt Shumona Sinha im Anschluss an diese Szene; aber gerade darum sei es ihr ein Anliegen, die verknöcherten Machtstrukturen im Parteiapparat anzuprangern.

Es ist klar, dass sie sich mit ihren Büchern viele Feinde macht. Ob es um die bengalische oder die französische Gesellschaft geht: Vor Sinhas Feder ist niemand sicher. In Frankreich gebe es gleichsam zwei konträre Reaktionen, sagt sie im Gespräch mit Knut Elstermann (der souverän locker die komplexe Mehrfachaufgabe von Interviewer, Dolmetscher und Gastgeber meistert): Ein Teil der Kritiker sowie die Buchhändler verstünden sehr wohl, was sie mit ihren Büchern eigentlich bezwecke, und unterstützten sie.

Auf der anderen Seite stünde aber eine große Fraktion derjenigen, die der Ansicht seien, ihr, die erst als Erwachsene eingewandert sei, komme überhaupt nicht das Recht zu, die französische Gesellschaft zu kritisieren.

Besessen vom Blues

In verwandter, aber nicht vergleichbarer Lage ist auch der Autor Hari Kunzru, der am selben Abend eine Lesung aus seinem Roman „White Lies“ bestreitet. Er hatte eigentlich damit gerechnet, weitaus mehr Ärger zu bekommen, als dann tatsächlich kam, erklärt er auf die Frage hin, ob sein Roman denn nicht auch eine unberechtigte Aneignung einer anderen Kultur sei. Kunzru, ein halbindischer Brite, lebt seit zehn Jahren in New York und erzählt in „White Lies“ die Geschichte genau einer solchen Aneignung – die aber gar nicht gut ausgeht. Sie handelt von zwei jungen weißen Männern, die besessen sind vom schwarzen Blues der 20er Jahre. Und deren Besessenheit ziemlich bald eine Form annimmt, die sich nicht mehr mit rechten Dingen erklären lässt.

Der Sprecher Frank Arnold ist dabei, um aus der deutschen Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner zu lesen, der die Bluestexte im Original belassen hat. Also liest Arnold diesen einen Songtext, mit dem die große Besessenheit über die Jungs kommt, auf Englisch. Und das macht er wirklich so wundersam gruselig, dass es schon ein bisschen gemein ist, genau damit den Abend, den vorletzten des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals, zu beschließen. Katharina Granzin