Nicht lokalisierbar: Parallel zur Hauptausstellung des Kunstvereins Braunschweig zeigt Hannah Weinberger in einem Nebengebäude Landschaftsvideos, die Empfindungen aufkommen lassen sollen Foto: Stefan Stark

Eintracht in Braunschweig

DOPPELFORMAT Mit Inge Mahn und Nora Schultz lässt der Kunstverein Braunschweig erneut zwei Künstlerinnen aufeinandertreffen, um sich die Ausstellungsräume in der Villa zu teilen. Doch statt sie gemeinsam zu bestücken, haben sie die Räume aufgeteilt.

von Bettina Maria Broswsky

Zwei Generationen und vor allem zwei schöpferische Temperamente, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten: Der Kunstverein Braunschweig hat als Programm für den Herbst erneut zwei Künstlerinnen eingeladen, sich in seinem Ausstellungsformat „1:1“ einträchtig die Räumlichkeiten in der Braunschweiger Villa zu teilen. Erstmals erprobt wurde das in dem klassizistischen Domizil im letzten Jahr: Da fanden mit Klara Lidén und Karl Holmqvist, beide aus Schweden, zwei individuelle Positionen zu einem konsistenten Ganzen zusammen. Sie leben mittlerweile in Berlin und kooperieren sporadisch künstlerisch. Mit Inge Mahn und Nora Schultz läuft es in der augenblicklichen zweiten Auflage anders.

Mahn ist Jahrgang 1943 und hat bei Joseph Beuys studiert. Sie war 1972, als gerade mal 29-jährige Künstlerin, mit ihrer Abschlussarbeit an der Düsseldorfer Akademie auf der Documenta in Kassel dabei und beherrscht souverän eine klassische, minimalistisch elementare Sparte der Plastik. Schultz hingegen, 1975 geboren, arbeitet in der zeitgeistigen Variante der Installation und erweitert sie durch Film und Performance zu animierten Gesamtsituationen.

Beide Künstlerinnen kannten sich nicht – und hatten somit auch nicht vor, die einzelnen Kunstvereinsräume gemeinschaftlich zu bestücken. Stattdessen wurde aufgeteilt: Inge Mahn erbat sich das repräsentative Erdgeschoss, Nora Schultz erhielt die bescheideneren, ehemaligen Schlaf- und Nebenräume im Obergeschoss. Um doch noch eine physische Kreuzung zu bewerkstelligen, bedurfte es eines kuratorischen Kniffs, erzählt Interimsdirektorin Christina Lehnert: In der zentralen Eingangsrotunde, die beide Geschosse verschränkt, korrespondiert nun ein gipsweißer, recht stattlicher „stehender Vorhang“ Inge Mahns mit dem Video einer flüchtigen Jalousien-Performance von Nora Schultz. Was erstaunlich gut zusammengeht.

Inge Mahn hat mit den großzügigen Raumfluchten gearbeitet, sie will die Räume „darstellen“, wie sie es ausdrückt. Dafür fügt sie Gegenstände hinzu: abstrahierte Objekte, Elementarvolumen wie Kugeln oder plattendünne Quader, skurrile Kombinationen, aber auch handwerklich plastische Gebilde wie eine Charge besagter stehender Vorhänge. Diese sind aus locker gewebter Jute, die dann, mit Gipsmasse durchtränkt, zum grob gebauschten Textil erstarrt. Materialien und Technik sind der Stuckatur entlehnt, das architektonische Dekorationsgewerk emanzipiert sich jedoch von Decke und Wand, entwickelt ein körperhaftes Eigenleben. Wenngleich in fragiler Balance, denn so ganz standfest sind die Gebilde dann wohl nicht.

Und dieses Kippelige, so bemerkt man, ist allen plastischen Hinzufügungen Mahns zu eigen. Im Spiegelsaal etwa beginnen aus den leeren kassettierten Wandfeldern, die vielleicht einmal Gemälde aufnehmen sollten, weiße Leinwände zu purzeln. Sie liegen aber noch nicht komplett am Boden, sondern stützen sich zu pittoresken Kaskaden gegenseitig ab, überziehen das verblasste großbürgerliche Ambiente mit einem Hauch einsetzenden Zerfalls.

Auch die rustikale Mistforke, die im ovalen Gartenkabinett frivol auskragend unter einer weißen Kugel klemmt, kann ihre Position nur halten, weil die Kugel eine leichte Unwucht hat, erklärt Mahn. Und dass die Spiegelfolie in einer großen Halbkugelschale im Nachbarzimmer diesen Raum nur mehr verzerrt wiedergibt – auch das passt gut in Inge Mahns künstlerische Weltsicht: Unsere Wahrnehmung vertraut auf Verinnerlichtes, Bekanntes, Verlässliches. Schon eine minimale Verschiebung, ein prekärer Moment vermag die sichere Gewissheit infrage zu stellen.

Veränderungen im atmosphärischen Feinbereich interessieren auch Schultz. Für Skulptur-Projekte in Münster hat sie die pathetische Architektur des neuen Landesmuseums umcodiert, das gleißende Oberlicht des Foyers wurde abgedunkelt, ein sandfarbener Teppichboden ausgerollt: Augen, Füßen und Ohren gefiel plötzlich dieser Raum.

Klappermetall, das zum Leben erwacht: „Movie Posters“, 2017 von Nora Schultz Foto: Stefan Stark

Im Braunschweiger Obergeschoss ist jetzt der Parkettfußboden unter grauem Packpapier verschwunden, Schultz inszeniert in den neutralisierten Räumen ihr „Centre Dental“. Richtig heißt es ja „centre dentaire“ und meint eine zahnärztliche Klinik, aber schon dieser sprachliche Lapsus aus einem Aufenthalt im Französischen, den Schultz hier einbaut, lässt schließen, dass alles nicht bierernst gemeint sein soll.

Und so staksen nun übergroße Zähne aus Beton auf Stativen durch die Räume, Jalousien sollen Erinnerungen an die cleane Einrichtung entsprechender Praxen evozieren. In gefilmten Performances erwacht dann das Klappermetall, von unsichtbaren Akteuren geführt, zu Eigenleben, nicht weniger kreatürlich als die gipsernen Vorhanggestalten Mahns.

In der Remise, einem Nebengebäude der Villa, in dem junge Talente experimentieren können, stellt Hannah Weinberger aus. Die Baselerin ist 1988 geboren und zeigt Videos, die reale Situationen so präsentieren, dass sie nicht mehr direkt lokalisierbar sind, sondern lediglich Empfindungen wie „südliche Landschaft“ aufkommen lassen. Begleitenden Sound sollen Musiker aus Braunschweig vom Hof aus liefern, Weinberger hat ihnen dazu lediglich Stimmungspartituren vorgegeben. Sie arbeitet von den drei Künstlerinnen somit an der feinsten, immateriellen Aufmerksamkeitsschwelle.

Ach ja, ein Mann ist dann auch noch dabei: der Grafikdesigner Manuel Raeder hat als Kommentar im „Gästezimmer“ ein Magazin zur Arbeit von Nora Schultz erstellt und ausgelegt.

bis 11. November, Kunstverein Braunschweig, Lessingplatz 12