Jenseits der Sonntagskinder

WISSENSWERTES AUS MANNHEIM Die Waldorfschule im Stadtteil Neckarstadt-West bringt Reformpädagogik an einen sozialen Brennpunkt. Im Ganztagsbetrieb leben und lernen hier 242 SchülerInnen aus mehr als zwanzig Ländern

„Die Waldorfschule hat als Arbeiterschule begonnen und kehrt nun dahin zurück“

VON MARIA BERANEK

Christoph Doll ist viel beschäftigt. Der Waldorflehrer ist Mitglied des Schulvorstands der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim und reist in Sachen Bildung quer durch die Republik. Er möchte, dass seine Schule Schule macht. Doll wirbt für das Projekt einer integrativen interkulturellen Waldorfpädagogik. Er spricht mit der Robert Bosch Stiftung, mit türkischen Elternvereinen, knüpft Kontakte zu Lokalpolitikern.

Doll hat vor sechs Jahren im Mannheimer Problembezirk Neckarstadt-West die erste interkulturelle Waldorfschule Deutschlands mitbegründet. Der Stadtteil rechts des Neckars ist ein sozialer Brennpunkt mit hohem Migrantenanteil. Man könnte diesen Ort das Neukölln des Schwabenlands nennen – mehr als 50 Prozent der Anwohner haben keinen deutschen Pass, bei den Kindern und Jugendlichen liegt diese Quote beträchtlich höher. Die meisten stammen aus der Türkei und den Mittelmeerländern Italien, Griechenland und Spanien. Eine klassische westdeutsche Mischung, auch was die Probleme betrifft.

Sozialarbeiter beklagen die hohe Arbeitslosigkeit, Stadtpolitiker kritisieren die Drogenproblematik, und auch viele Bewohner selbst sind unzufrieden mit ihrer Situation. Bei einer Umfrage im Auftrag des Stadtmanagements landete Neckarstadt-West vor einigen Jahren auf der Beliebtheitsskala der siebzehn Mannheimer Stadtbezirke fast ganz am Ende.

Entdeckt angesichts solcher Zustände nun auch die Waldorfpädagogik das Thema soziale Integration? Immerhin ist seit dem Medienereignis Rütli die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Situation von Schulen in sozialen Brennpunkten gestiegen. Lesepatenschaften und Ehrenamt sind in aller Munde, im Privatfernsehen motivieren Superlehrer und Jugendcoachs aufgegebene „Unterschichtkinder“.

Springt die Waldorfpädagogik auf diesen Trend auf? „Nein“, sagt Christoph Doll, „die Waldorfschule ist kein Mittelschichtphänomen. Sie hat vor 90 Jahren in Stuttgart als Arbeiterschule begonnen und kehrt nun dahin zurück.“

Tatsächlich hatte niemand anderer als Rudolf Steiner im Jahr 1919 das Angebot des Stuttgarter Unternehmers Emil Molt angenommen, eine Schule für die Kinder der bei ihm beschäftigten Arbeiter pädagogisch zu betreuen. Die Betriebsschule der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik wurde auf der Stuttgarter Uhlandshöhe wurde so zur Keimzelle der weltweiten Waldorfschulbewegung. Soziale Integration stand von Anfang an auf dem Lehrplan – das Projekt gilt als erste Gesamtschule in der deutschen Schulgeschichte. Sehr modern war damals auch die Einführung der Koedukation – Mädchen und Jungen drückten auf der Uhlandshöhe gemeinsam die Schulbank.

In Mannheim hat die sozial-integrative, interkulturelle Waldorfpädagogik bereits seit 30 Jahren Tradition. Damals gründete Renate Brecht in der Langstraße 45 einen Waldorfkindergarten, der vor allem Kinder mit Migrationshintergrund und sozial benachteiligte Kinder betreute. Aus der Erfahrung mit dem Kindergarten und aus einer Initiative der Freien Hochschule für anthroposophische Pädagogik Mannheim, die Waldorflehrer ausbildet, entstand die Idee, das Konzept auch auf Kinder im Schulkindalter auszudehnen. 2003 öffnete dann am Messplatz die erste interkulturelle Waldorfschule Deutschlands mit 34 Schülern ihre Pforten auf der zweiten Etage eines ehemaligen Möbelhauses. An der integrativen Gesamt- und Ganztagsschule lernen mittlerweile 248 Schüler aus 22 Nationen in den Klassenstufen 1 bis 9. Fast 50 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Dieses Verhältnis herrscht auch in den Klassen, in Dolls Klasse sind es sogar mehr als zwei Drittel. Auch das Lehrerkollegium ist bunt: 30 Lehrer aus 16 Nationen unterrichten an der Schule.

Neben bekannten Konzepten der Waldorfpädagogik, wie die Kontinuität des Klassenlehrers bis zur 6. oder 8. Klasse, keine Noten und kein Sitzenbleiben, zeichnet sich die Schule durch besondere sozial-integrativen Maßnahmen aus. Ein wichtiger Aspekt ist die Sprachförderung. So haben die Mannheimer den begegnungssprachlichen Unterricht erfunden: „Unsere Schülerinnen und Schüler werden von der ersten bis zur dritten Klasse zwei Wochenstunden in ihrer Muttersprache unterrichtet“, so Christoph Doll. Momentan werden Russisch, Türkisch, Polnisch und Spanisch angeboten. Außerdem gibt es Einzelförderung und orientalischen Bewegungsunterricht.

Die Mühe scheint sich zu lohnen. Eine im Mai veröffentlichte Studie unter der Leitung von Prof. Michael Braer von der Freien Alanus Hochschule bescheinigte der Mannheimer Schule eine herausragende Leistung in der Förderung der sprachlichen Kompetenz. Die wissenschaftliche Evaluierung ergab, dass das deutsche Sprachniveau unter den Schülern auch ohne Einzelunterricht nach zwei Jahren angeglichen ist, und begründete das mit dem hohen Stellenwert der Sprache in der Waldorfpädagogik. Auch eine Erhöhung der sozialen Kompetenz wurde laut Studie festgestellt.

Sollte das ein Erfolgsmodell sein? „Es gibt viele Anfragen“, sagt Christoph Doll, „auch aus kleineren Städten. Von Bürgermeistern und Kommunalpolitikern.“ In Stuttgart und Hamburg-Wilhelmsburg gibt es Initiativen für interkulturelle Waldorfeinrichtungen. Vorangetrieben werden Integrationskonzepte aber auch durch das von der Politik verordnete Ende der Hauptschulen: Nach Plänen des baden-württembergischen Kultusministeriums sollen alle bisherigen Hauptschüler in Zukunft einen Realschulabschluss erreichen können. Viele Schulen, die im Rahmen der Reform bis 2010 verschwinden müssen, fragen jetzt bei Doll nach.

Zur wissenschaftlichen Begleitung des Schulprojekts wurde am 23. September 2009 in Mannheim zudem das Institut für Interkulturelle Waldorfpädagogik in Anwesenheit von Rita Süßmuth eröffnet. Zudem bewirbt sich die Schule um den Deutschen Schulpreis 2010. Kooperationen mit der Uni Karlsruhe und der Musikhochschule Mannheim sind geplant.

Finanziert wird momentan alles über einen geringen Elternbeitrag von 35 Euro im Monat, der Rest wird durch eine Stiftung gedeckt – Spenden sind erwünscht. Die Finanzierungsfrage wäre bei der Mittelschicht wohl kein so großes Problem. Doch die wohnt nicht dort, wo ihr soziales Engagement am dringendsten benötigt wird.