Tag der deutschen Differenz

SCHICKSALSSCHLÄGE Schwer genug, die Auswirkungen des Mauerfalls auf das eigene Leben zu verarbeiten. Man sollte ihn deshalb lieber von Einheitswünschen entlasten

Nun nervt man sich selbst und sich gegenseitig mit Identitätssuchen und Identitätskrisen

VON DIRK KNIPPHALS

Vielleicht sollte man den Tag der Deutschen Einheit sowieso lieber am 7. Juli feiern; zumindest wäre das irgendwie lässiger. An diesem Datum des Jahres 1985 – einem schönen, warmen Sommersonntag – gewann Boris Becker zum ersten Mal das Tennisturnier in Wimbledon. Einer der interessantesten Romane der vergangenen Jahre, „Karlmann“ von Michael Kleeberg, fängt damit an: Die Hauptfigur sitzt vor dem Fernseher und schaut sich die Übertragung aus London an, ganz banal eigentlich, aber zugleich fängt der Roman sehr deutlich das Gefühl ein, dass es hier um etwas Überindividuelles ging, wenn man so will: um etwas Größeres als man selbst.

Man wird sich erinnern. Aus irgendeinem magischen Grund gehörte zu diesem Ereignis die gespannte Erwartungsfreude, dass hier und heute tatsächlich etwas geschehen könnte – etwas, was im Gedächtnis vieler Menschen haften bleiben und somit etwas Kollektives stiften wird. Ganz Deutschland guckte das Spiel (das stimmt nicht ganz, aber immerhin: in Wirklichkeit waren elf Millionen der damals 33 Millionen westdeutschen Fernsehapparate aufs ZDF geschaltet, wo die Übertragung lief, auch viele ostdeutsche Apparate waren eingeschaltet; und danach ging es ja erst los, noch jahrelang wurden die Medien vom Becker-Fieber geschüttelt).

Auf den Sportkontext kam es letztlich gar nicht so an, sondern möglicherweise nur auf diese Erwartungshaltung. Michael Kleebergs Roman „Karlmann“ ist da ganz auf Höhe einer gegenwärtigen Gesellschaftsanalyse. Dass gesellschaftliche Einheit längst durch die Medien konstruiert wird, indem sie eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit herstellen nämlich, ist inzwischen soziologisches Basiswissen. Vielleicht würde man uns ein wenig belächeln. Aber eins ist klar, würden wir den Tag der Deutschen Einheit auf den 7. Juli legen, wir hätten den modernsten – oder soll man sagen: postmodernsten? – Nationalfeiertag weltweit!

Gelegentlich kneifen

Aber vielleicht fällt einem das alles auch nur deshalb ein, weil einen an den tatsächlich begangenen Feiertagen zur Einheit immer etwas stört. Was am 3. Oktober, dem offiziellen Feiertag stört, ist leicht zu sagen. Dieser Termin hat etwas Willkürliches. Das spürt auch jeder. Im Grunde genommen betrachtet man den 3. Oktober doch als eine Art Helmut-Kohl-Gedächtnistag und ordnet ihn zugleich weit hinten in der Feiertagshierarchie ein.

Schwerer zu benennen, was an dem 9. November, dem wirklichen, wenn auch inoffiziellen Feiertag, so irritierend ist. Es ist ein Tag, an dem man sich immer noch gelegentlich kneifen muss, wenn man sich klarmacht, was da tatsächlich vor zwanzig Jahren geschehen ist und wie einschneidend das für die Lebensentwürfe war und noch ist. Während der 3. Oktober zu glatt durchrutscht, hat der 9. November aber etwas Unbehagliches.

Richard von Weizsäcker, der Altbundespräsident, sagte auf einer Vorstellung seines Buches „Der Weg zur Einheit“, dass der 9. November nicht offizieller Feiertag werden konnte, weil er auch das Datum der Reichspogromnacht ist. Okay. Ehrenwertes Argument. Aber es trifft das Unbehagen nicht wirklich.

Näher heran rückt man, wenn man feststellt, dass das Geschehen um den 9. November 1989 eh schon schwer zu verarbeiten ist. Der Treppenwitz der Weltgeschichte mit Schabowskis Zettel, die anfängliche Verwirrung an den Check Points, dann die tanzende Menge auf der Mauer: Man sieht sich selbst in diesen Ereignissen rein als Kollektivwesen gespiegelt, als Teil einer Menge, die eingebunden war in die große Maschinerie der Geschichte, die da wild rotierte.

Und wenn man dann erfährt, dass dieses Kollektivgeschehen zur grundlegenden Erzählung gesellschaftlicher Einheitsstiftung verwendet wird – und man kommt ja nicht drumherum, das zu erfahren, die Medien geben auch in diesen Tagen wieder alles –, dann wird einem halt unbehaglich. Selbst wer den Mauerfall bejubelt und seine Ergebnisse weitgehend gutheißt, muss feststellen, dass das Verhältnis von Individuellem und Kollektivität an diesem Termin zu eindeutig in Richtung Kollektivität ausfällt. Es gibt keinen anderen Tag, an dem man als Einzelner so sehr die Macht des Allgemeinen spürt wie an diesem.

Wer Pech hat, reagiert auf solche Zumutungen nur mit einem rein abwehrenden Genervtsein. Wer Glück hat, dem kann wenigstens dieses eine Plakat einfallen, das einen im Umfeld der Vereinigungsdemonstrationen so erheiterte. Inmitten der vielen Schilder mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“ hatte ein genialer Witzbold ein Schild mit dem Satz „Ich bin Volker“ entgegengereckt. Das war nicht nur lustig und entlastend, sondern auch von höherer Wahrheit. Es war schon gut, dass da jemand im vermeintlichen kollektiven Taumel (der sich bald wieder in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst hat) seine individuelle Differenz hochhielt.

Aber auch die Kollektivitätszumutungen treffen das Unbehagen nicht im Kern, mehr noch, in gewisser Weise lenken sie sogar davon ab. Das Unbehagen wäre wohl auch da, wenn alles um den 9. November herum perfekt ablaufen würde, die Medienerzählungen, das Gedenken, die öffentlich vorgetragenen Überprüfungen des Standes der Identitäten, eben wirklich alles. Auch dann, vielleicht sogar gerade dann würde eine Kluft deutlich werden zwischen dem durch Medien repräsentierten Einheitsgeschehen und der Ebene des individuellen Erlebens.

Historische Glücksfälle

In diesem Zusammenhang ist nun der Schluss von Michael Kleebergs Roman „Karlmann“ interessant. Während er zu Beginn des Buches schildert, wie seine Hauptfigur allein oder höchstens mit ein paar Kumpels vor dem Fernseher sitzt und gerade deshalb Teil eines medial erzeugten Ganzen sein kann, so zeigt er am Schluss, wie sich dieselbe Hauptfigur in großen historischen Umbrüchen wiederfindet – und davon überhaupt nicht berührt wird. Das letzte Kapitel des Buches spielt vor dem Hintergrund der Ereignisse, die dann zum 9. November führten; Genschers Rede auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Budapest wird ausdrücklich markiert. Aber Karlmann Renn, die Hauptfigur, hat andere Sorgen. Er wurde von seiner Frau verlassen und muss – Mauerfall hin, Einheitsstiftung her – sein Leben selbst ganz neu zusammensetzen.

Es gibt keinen anderen Tag, an dem man als Einzelner so sehr die Macht des Allgemeinen spürt wie an diesem

Mit dieser Gegenüberstellung von kollektiv vorangebrachter Weltgeschichte und individuellem Schicksalsschlag steht Michael Kleeberg in der aktuellen deutschsprachigen Literatur keineswegs alleine da. Katja Lange-Müller setzt in ihrem ebenso großartigen Roman „Wilde Schafe“ sogar noch einen drauf. Ihre Heldin muss zum Schluss dem Verlöschen des Lebens ihres ehemaligen Geliebten zusehen, der als Junkie an Aids in einem Berliner Hospiz stirbt, während nur wenige hundert Meter weiter die ersten Trabis laut hupend die Grenzübergänge passieren.

Man kann um diese beiden Romanschlüsse ganze Interpretationsdramen aufführen. Auf jeden Fall sind sie etwas anderes als der Schluss von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“, der den Mauerfall als Kulisse nutzte, um seine Kreuzberger Kneipen-Enklave der Achtzigerjahre leicht sentimental untergehen zu lassen. Und sie gehen auch nicht in einer Sicht auf, die in ihnen einen trotzigen oder traurigen individuellen Selbstbehauptungswillen inmitten vom kollektiven Treiben sieht; als erzählerische Bebilderungen des „Ich bin Volker“-Schildes gewissermaßen.

Die interessanteste Interpretation wäre wohl, gar nicht von einem Gegeneinander, sondern von einer inneren Verbindung von einzelnem Schicksal und Mauerfall auszugehen: So emphatisch und genau lässt sich nur in einer Situation erzählen, in der die Mauer schon gefallen ist (die Bücher wurden ja erst vor kurzem geschrieben und dann auf die Achtziger zurückprojiziert). Oder andersherum: So genau von individuellen Schicksalen zu erzählen bedeutet in gewisser Weise schon, die Mauer in sich zusammenfallen zu lassen. Der reale Mauerfall muss am Ende des Buches dann nur noch konstatiert werden

Und warum dann diese Traurigkeit am Schluss beider Romane? Das hat wohl etwas damit zu tun, dass der 9. November auch der Tag ist, an dem einem Jahr für Jahr deutlicher werden kann, wie wenig einen selbst die Erinnerung an historische Glücksfälle bei der eigenen Lebensgestaltung hilft. Denn gewonnen hat, wenn man so ein Wort denn schon benutzen will, bei Licht besehen mit dem Mauerfall keinesfalls die Einheit, der Westen oder der Kapitalismus. Gewonnen hat der Individualismus. Und der ist zum einen auf einer allgemeinsymbolischen Ebene nur sehr schwer zu feiern. Und zum anderen ist der Individualismus – und da sind wir wohl am Kern des Unbehagens – nun einmal mit Ambivalenzen verbunden. Man kann nun ohne Mauern leben. Aber gleichzeitig nervt man sich selbst und sich gegenseitig mit Identitätskrisen und einem allgemeinen Identitätsgesuche, das nun gesamtgesellschaftlich erst so richtig lostobt.

Das alles kann einen dann und wann (und pünktlich alljährlich zum 9. November) etwas melancholisch stimmen. Aber das ist in einer modernen Gesellschaft nun einmal so. Es gibt aber durchaus die Möglichkeit, die positiven Aspekte des 9. Novembers etwas mehr hervorzuheben und damit diesen Termin etwas weniger unbehaglich zu machen. Gewonnen wäre schon einiges, wenn man ihn von Einheitsperspektiven entlastet und als Tag der Differenz begeht – als Tag, von dem an man sich in ganz Deutschland vom Allgemeinen und auch untereinander unterscheiden darf, aber auch muss. Dann hat jedenfalls niemand falsche Erwartungshaltungen mehr. Und die Einheit stiften wie eh und je die Medien.

Dirk Knipphals wurde 1963 in Kiel geboren und lebt in Berlin