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Medienmündig statt süchtig

Die Digitalisierung im Klassenzimmer schreitet voran, auch an den Waldorfschulen. Der ganzheitliche pädagogische Ansatz soll Schüler für einen bewussten Medienumgang sensibilisieren

Längst ist die Überbetonung des Visuellen, die die gesamte Gegenwartskultur durchdringt, auch zum Alltag in deutschen Kinder­zimmern geworden Foto: Hero Images/plainpicture

Von Nicolas Flessa

Als Rudolf Steiner 1923 seine Vorträge über die „Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen“ hielt, ahnte er nichts von den bahnbrechenden Technologien, die zu Beginn des neuen Jahrtausends die Pädagogik in den Grundfesten erschüttern sollten. Und so mutet es fast wie ein Beleg seiner Hellsichtigkeit an, wenn er davon spricht, der Mensch sei im Kindesalter „gewissermaßen … ganz Auge“. Steiners medienkritische Anamnese des lesenden Schülers – „da ist man schon ein richtiger Duckmäuser, da strengt sich nur noch ein Teil des Menschen an, der Kopf“ – scheint im Zeitalter der Digitalisierung aktueller denn je.

Längst ist die Überbetonung des Visuellen, die die gesamte Gegenwartskultur durchdringt, auch zum Alltag in deutschen Kinderzimmern geworden. Laut der aktuellen Bitkom-Studie besitzen 67 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen ein Smartphone, Internetzugang inklusive. Ab zwölf Jahren sind es 88 Prozent. An der digitalen Welt reizt sie – ganz im Gegensatz zum Klischee der spielsüchtigen Kids – vor allem der Konsum von Filmen, Videos und Serien. Das Smartphone als Taschenfernseher? Man ahnt: Da strengt sich nur noch ein Teil des Menschen an, die Augen.

Über die Rolle der Eltern bei der Überwachung des frühkindlichen Medienkonsums ist viel geschrieben worden. So rät zum Beispiel die 3-6-9-12-Regel, den Nachwuchs stufenweise an die digitale Welt heranzuführen: Keine Bildschirmmedien unter drei, keine eigene Spielkonsole unter sechs, kein Smartphone unter neun und keine unbeaufsichtigte Internetnutzung unter zwölf Jahren. Wie aber überprüfen, was das Kind außerhalb der eigenen Einflusssphäre tut, sei es bei Freunden oder während der Pausen in der Schule? Pädagogen haben das Thema Me­dien­kompetenz für sich entdeckt – und werden so von Gouvernanten („Handys aus!“) zu Agenten des digitalen Wandels.

Während Initiativen wie der „Aktionsrat Bildung“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft nicht müde wird, den regelmäßigen Einsatz von Computern schon in der Grundschule zu fordern, warnen Forscher wie Paula Bleckmann vom Verein Media Protect vor den Folgen frühkindlichen Bildschirmkonsums. Medienmündig statt mediensüchtig lautet daher das Gebot der Stunde. „Wer etwas für Bildung tun will, investiert in Bewegungsförderung in der Kita, in Schulbibliotheken und in Leseförderung an Grundschulen, in eine bessere Bezahlung für Pädagogen“, so die Gesundheitspädagogin.

Der Umgang mit Medien ist nicht bloß eine Frage der Infrastruktur

Erst danach mache die wohl dosierte Investition in digitale Infrastruktur Sinn – und das auch erst für ältere Schüler. In jüngeren Jahren führe Konsum von digitalen Medien nicht selten zu Empathieverlust, Übergewicht, Schlafstörungen, mangelnder Konzentration und Kurzsichtigkeit bis hin zu Verzögerungen der Sprach- und Bewegungsentwicklung.

Ist Rudolf Steiners Ansatz einer ganzheitlichen Pädagogik mit dem Dauerfeuer der digitalen Medien vereinbar? Schon der Schulgründer selbst hatte schließlich vor einer „Zusammenschmiedung des Menschenwesens mit dem maschinellen Wesen“ gewarnt. Für Flemming Herre, den Leiter der Parsival-Schule in Berlin, sind Chancen und Herausforderungen von Medienkonzepten an Waldorfschulen immer mehrdimensional zu betrachten. Wie nutzen Waldorf-Lehrer konkret digitale Medien für ihren Unterricht, wie sensibilisieren sie ihre Schüler für einen differenzierten Medienumgang? „Waldorfschulen sollten sich den Erziehungsauftrag zur Medienmündigkeit bewusst zu eigen machen“, so Herre. „Dafür können sie ihren ganzheitlich-pädagogischen Ansatz nutzen und gleichzeitig aufzeigen, wo Grenzen der Anwendbarkeit liegen.“

Auch Patricia Feise-Mahnkopp, Juniorprofessorin am Institut für Waldorfpädagogik der Alanus Hochschule, sieht gerade die Waldorfschulen mit ihrem Ziel ganzheitlicher Wahrnehmungsfähigkeit in der Pflicht, „eine kritische Urteilsfähigkeit sowie eine produktiv-künstlerische Handlungsfähigkeit“ ihrer Schüler zu fördern. Nicht einmal Steiner hätte wohl daran geglaubt, den Wandel hin zu einer digitalen Gesellschaft im Namen der Anthroposophie abwenden zu können: „Nicht auf das Was kommt es in diesem Falle an, das Was kommt sicher“, schrieb er im Jahre 1917. „Auf das Wie kommt es an, wie man die Dinge in Angriff nimmt.“ Zwei Jahre später gründete der pädagogische Quereinsteiger in Stuttgart die erste Waldorfschule.