Obdachlose in Berlin: „Die ganz einfache Lösung gibt es nicht“

Immer mehr Obdachlose leben in Berlin, vor allem aus anderen EU-Ländern. Sozialexperte Robert Veltmann kritisiert den Umgang mit ihnen.

Immer mehr Obdachlose campieren in Grünanlagen, an Bahndämmen… Foto: dpa

taz: Herr Veltmann, die Stadt diskutiert über osteuropäische Obdachlose, die im Tiergarten und anderswo campieren. Seit wann kennen Sie das Problem?

Robert Veltmann: Die Gebewo ist seit über 20 Jahren Akteur in der Berliner Kältehilfe. Wir haben 2012 die Frostschutzengel gegründet, weil zunehmend Menschen aus Polen und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern zu den Schlafplätzen kamen und es die Frage gab, welche Ansprüche sie haben. 2013 haben wir die Politik um finanzielle Unterstützung gebeten. Die Reaktion: Tolles Projekt, aber wir haben kein Geld dafür. Berlin hat diese Entwicklung verschlafen. Und jetzt fordern Herr von Dassel (Stephan von Dassel, grüner Bürgermeister von Mitte, d. Red.) und andere Abschiebung.

Sind osteuropäische Obdachlose aggressiver als andere?

Es gibt sicherlich aggressive, nicht ansprechbare Menschen. Aber das ist bei einem langjährigen deutschen Obdachlosen mit Alkohol- und psychiatrischen Problemen auch so. Wer lange auf der Straße wohnt, täglich mit Elend und Not zu tun hat, vielleicht selbst Opfer von Gewalt und Diebstahl war, wird nicht umgänglicher. Man kann dieses Phänomen aber nicht nach Nationalitäten sortieren.

Warum kommen die Menschen hierher?

Im vergangenen Jahr haben die Frostschutzengel rund 280 Obdachlose aus Osteuropa beraten. Drei Viertel von ihnen kamen, weil sie Arbeit suchen. Es gibt Menschen, die schon obdachlos waren, bevor sie herkamen. Aber das ist die Ausnahme.

Von Dassel hat sich dafür ausgesprochen, das Hilfesystem nicht auszuweiten, um keine Anreize zu schaffen.

Geschäftsführer der Gebewo. Der soziale Träger hat 2012 gemeinsam mit der Caritas das Projekt "Frostschutzengel" speziell für wohnungslose EU-BürgerInnen in Berlin gegründet. Veltmann selbst ist seit 25 Jahren in der Obdachlosenhilfe tätig.

Die Entwicklung der letzten Jahre ist doch das beste Argument dafür, dass so eine Sogwirkung nicht die Ursache ist: Die Angebote wurden nicht ausgeweitet und trotzdem haben wir mehr wohnungslose Menschen. Der Großteil der Menschen, die aus Osteuropa nach Berlin kommen, findet hier Arbeit, zahlt Steuern und Sozialabgaben: in der Pflege, als Reinigungskraft, auf dem Bau, in der Gastronomie. Nur ein kleiner Teil schafft das nicht. Und dieser kleine Teil landet auf der Straße mit den ganzen Schwierigkeiten, die mit dem Leben auf der Straße verbunden sind: Verwahrlosung, Verelendung, Alkohol.

Es wird viel über die Gefährdung von Mitarbeitern der Grünflächenpflege und Parkbesuchern diskutiert. Wie sieht denn die Situation für die Obdachlosen aus?

Die haben auch Angst. Das liegt aber nicht daran, dass bestimmte Gruppen aggressiver sind als andere. Das macht die Masse. Wenn Sie im Park Hunderte Leute haben, die alle um die gleichen Ressourcen kämpfen – Flaschen sammeln, Betteln, eine warme Suppe, ein Schlafplatz –, dann führt das zu einer Ellbogenmentalität.

Was halten Sie von Abschiebung, wie von Dassel und andere fordern?

Das ist nicht die Lösung. Wir wollten diese europäische Freizügigkeit der Waren und Arbeitskräfte und wir profitieren davon. Dann kann man sich doch aber nicht hinstellen und sagen: Mit denen, die es nicht schaffen, wollen wir nichts zu tun haben. Das funktioniert nicht.

Wie viele Menschen in Berlin obdachlos sind, weiß niemand genau. Schätzungen belaufen sich auf 6.000 bis zu 10.000 Personen. Klar ist, dass die Zahl in den vergangenen Jahren angestiegen gibt.

125 Notunterkunftsplätze stehen das ganze Jahr über zur Verfügung. Die Einrichtungen der Kältehilfe sorgen dafür, dass es im Winter deutlich mehr sind. In diesem Jahr soll die Zahl noch einmal um 80 Plätze auf 1.000 steigen.

Auch Bezirkspolitiker fordern ein berlinweit koordiniertes Vorgehen statt einzelner Räumungen, die das Problem nur verlagern statt lösen. Der Senat kam dieser Forderung am Montag mit der Ankündigung entgegen, dass die zunächst für den Tiergarten gegründete Task Force nun für ganz Berlin zuständig sein soll. Wie stadtweite Lösungen aussehen können, ist bislang aber weiter unklar.

Die Frostschutzengel gibt es seit 2012, seit 2016 werden sie vom Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen finanziert. Vier Sozialarbeiterinnen beraten osteuropäische Wohnungslose in deren Muttersprachen. (mgu, mah)

Was funktioniert denn dann?

Wir brauchen für Berlin einen Masterplan zur Überwindung von Wohnungslosigkeit: mehr Unterkünfte und zugeschnittene Integrationsangebote. Im Hinblick auf die europäischen Wohnungslosen brauchen wir bundesweite Lösungen. Denn alle mühen sich mit den gleichen Problemen ab. Da muss der Bund aktiv werden, auch auf EU-Ebene.

Klingt nach einem dicken Brett.

Die ganz einfache Lösung gibt es nicht. Aber wir haben ja, als so viele Geflüchtete Hilfe brauchten, gesehen: Wenn sich alle ein bisschen am Riemen reißen, findet man Wege. Und jetzt brauchen wir Lösungen, damit sich Armut und Obdachlosigkeit in dieser Stadt nicht verfestigen.

Nächste Woche beginnt die Kältehilfe-Saison. Haben Sie Angst vor dem Winter?

Wenn er hart wird, schon. Wir finden ja nicht einmal genug Immobilien, um die 1.000 im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Schlafplätze bereitzustellen.

Woran hapert es?

Es gibt leere Gebäude in Gewerbegebieten, die eine Ausnahmegenehmigung zur Unterbringung von Flüchtlingen hatten. Wir dürfen aber keine Wohnungslosen darin unterbringen. Das ist absurd. Da lässt man die Leute lieber in Parks campieren.

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