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: Mitreißend sachlich: August Diehl liest „Jakob der Lügner“

Ein Lügner mit Gewissensbissen ist und bleibt auf seinem Gebiet ein Stümper.“ Diese Erkenntnis bringt Jakob, Bewohner eines fiktiven Ghettos während des Zweiten Weltkriegs, dazu, seine aus der Not geborene Lüge aufrechtzuerhalten. Zufällig bekommt er die Nachricht mit, dass die Rote Armee nur noch wenige hundert Kilometer entfernt ist. Um ihr Glaubwürdigkeit zu verleihen, behauptet er, er habe sie in seinem eigenen Radio gehört. Die Hoffnung, die er unter den Mitgefangenen schürt – die Selbstmordrate geht drastisch zurück, „ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag“ –, erfordert, dass er nun täglich mit neuen guten Nachrichten aufwartet. Da sein Radio nur erfunden ist, muss er sie sich ausdenken, er ist nun „Jakob der Lügner“.

Jurek Becker, der am 30. September 80 Jahre alt geworden wäre, verarbeitete in seinem 1969 erschienen Roman eine Geschichte, die sein Vater ihm erzählt hat: Im Ghetto von Lodz, in dem auch Becker seine frühe Kindheit verbrachte, gab es tatsächlich einen Mann, der ein Radio hatte, heldenhaft die Nachrichten verbreitete, entdeckt und hingerichtet wurde. Jurek Becker selbst hatte, eigenen Angaben zufolge, keine eigenen Erinnerungen an das Ghettoleben.

August Diehl liest nun die erste vollständige Aufnahme dieses Romans. Er verschwindet augenblicklich hinter der Figur des namenlosen Erzählers, dem Jakob kurz vor dem Tod die ganze aberwitzige Geschichte anvertraut hat. Mit nur sehr dezenten Stimmmodulationen kennzeichnet er die unterschiedlichen Charaktere. Er bleibt immer sachlich, arbeitet tragisch-komische Stellen so heraus, dass man trotz aller Grausamkeit frei herauslacht. Diehls wahrhaftige Lesung unterstützt perfekt den Erzählfluss Beckers, der mitreißend ist.

Die Anziehungskraft von „Jakob der Lügner“ speist sich auch aus der 1969 noch unvorstellbaren Darstellungsweise von Juden im Nationalsozialismus: Es sind ganz gewöhnliche Leute, Menschen, die unter widrigsten Umständen versuchen, ihr Leben so normal wie möglich weiterzuführen, persönliche Animositäten inklusive. Keine heldenhaften Widerstandskämpfer und vor allem: keine Opfer.

Freimütig macht der Erzähler deutlich, der Geschichte an Stellen, die nicht verifizierbar sind, eigene Schlussfolgerungen hinzugefügt zu haben. Im Fall des Herzspezialisten Kirschbaum, der zur Rettung des herzkranken Gestapo-Chefs abgeholt wird und nicht zurückkehrt, stellt der Erzähler nach dem Krieg Nachforschungen an: Von den Nazis in eine Zwickmühle gebracht, vergiftete sich der aufrechte Kirschbaum auf der langen Autofahrt selbst. Becker nutzt diesen Recherche-Exkurs, um auf ein weiteres, ungeheuerliches Verbrechen hinzuweisen: Der hochstehende Nazi-Scherge, der Kirschbaum abholte, legt dem Erzähler im Nachkriegsberlin seine blütenreine Entnazifizierungsurkunde vor. Sylvia Prahl

Jurek Becker, „Jakob der Lügner“, vollständige Lesung, Speak Low, 7 CDs, 515 Min.